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Auf die Piraten entfielen 8,9 Prozent der Stimmen bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Gewählt wurden sie vor allem von jungen Menschen und damit von einer Gruppe, die jahrzehntelang eng mit der SPD verbunden war. Eine Verbindung, die seit wenigen Jahren getrennt ist.

Die SPD war seit den 1970er Jahren stets die stärkste Kraft im Wählersegment der 18- bis 25-Jährigen. Auch wenn die Jungwähler im Vergleich zu anderen Wählersegmenten für das endgültige Wahlergebnis nicht die wichtigste Rolle spielten, hatte die Bindung der Jungen an die SPD doch eine wichtige Funktion für den Aufbau einer längerfristigen Parteibindung. Eine Bindung, die auch ohne Parteibuch eine innere Zugehörigkeit zur Partei, ihren Werten, Themen und Personen erzeugt. Davon profitierte die SPD immer auch bei den folgenden Wahlen, da andere Parteien - insbesondere die Union - diese frühe Parteibindung an die SPD erst überwinden mussten, um Wähler zum Wechsel zu bewegen. Die vielen jungen Wähler brachten der SPD zugleich ein Image von Modernität und Zukunftsfähigkeit.

SPD verliert Jungwähler

Obwohl die Bundestagswahl 2002 Verluste für die SPD mit sich brachte, blieb die Partei im Segment der Jungwähler mit 38,1 Prozent unangefochten vor CDU und CSU (23,5 Prozent) und Grünen (10,2 Prozent). Nur sieben Jahre später bei der Bundestagswahl 2009 gaben nur noch 18,2 Prozent der Jungwähler ihre Stimme der SPD. Ein solcher Verlust bedeutet auch langfristig eine starke Reduktion des Wählerpotenzials der Partei. Denn junge Menschen blicken, wenn sie sich für andere Parteien entscheiden, deutlich stärker auf die Defizite der Sozialdemokraten. Die SPD muss daher wieder lernen, junge skeptische Menschen, die andere Parteien favorisieren, für sich zu gewinnen.

Mit der Parteireform hat die SPD nun begonnen, sich strategisch neu aufzustellen, um wieder - insbesondere für junge Menschen - attraktiver zu werden. Dabei sieht sie sich allerdings mit einem Dilemma konfrontiert: Diejenigen, die die Reform gestalten, sind bereits Teil der SPD. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die sich aktiv in der SPD einbringen, sich auch mit der Organisation und Kultur der Partei identifizieren. Andernfalls würden sie nicht zu Entscheidungsträgern werden, sondern die Partei verlassen oder niemals eintreten. Dementsprechend bestimmen Organisation und Kultur einer Partei, welche Menschen mit welchen Lebensstilen, ästhetischen Präferenzen und Werten sich in ihr engagieren.

Wertewandel geht an SPD vorbei

Die heutige Organisation der SPD entstand in den 1950er Jahren. Sie wurde auf der Basis von Lebensstilen und Werten dieser Zeit geprägt. Eine deutliche Veränderung erfuhr die Partei durch massenhafte Eintritte junger Menschen in den 1970er Jahren. Sie prägten vor allem die Diskussionskultur innerhalb der Sozialdemokratie neu. Seither hat es keine radikalen Veränderungen von Parteiorganisation oder Parteikultur mehr gegeben. Auch weil es seit den 80er Jahren deutlich weniger Neueintritte in die Partei gab. Daraus folgt, dass in der heutigen SPD kaum Wertvorstellungen repräsentiert sind, die in den letzten 30 Jahren neu entstanden sind.

Zu diesen neuen Wertvorstellungen gehört die so genannte postmoderne Werteorientierung. Sie umfasst ein entideologisiertes, aber nicht wertfreies Denken in Machbarkeitskategorien. Dieses Denken ist heute für rund 50 Prozent aller Jugendlichen und für 37 Prozent der Gesamtbevölkerung prägend. Es bedeutet also einen erheblichen Verlust an Zustimmung für die SPD, wenn Menschen mit postmodernen Werten keinen Weg in die Partei finden. Wenn ein so großer Teil der Gesamtbevölkerung in der SPD nicht vertreten ist, wird ihr Status als Volkspartei bedroht. Addiert man alle Milieus zusammen, die in der SPD-Mitgliedschaft vertreten sind, so kommt man auf nur rund 40 Prozent der Gesamtgesellschaft. Die Mehrheitsfähigkeit der Partei wird so unterminiert.

Daraus folgt: Es reicht nicht aus, die eigenen Mitglieder zu befragen, um die SPD neu aufzustellen. Insbesondere diejenigen, die sich heute nicht mit der SPD identifizieren, obwohl sie deren Ziele teilen, müssen systematisch befragt und an der Reform beteiligt werden. Dafür reicht es nicht aus, die jungen Parteimitglieder stärker in die Reform einzubinden, denn diese teilen die heutige Kultur der Partei, ansonsten würden sie sich wohl kaum innerhalb der SPD engagieren. Die Jusos repräsentieren vielmehr eine verjüngte Version der alten Werteorientierungen. Nötig für einen echten Erneuerungsprozess ist nicht die Auf­gabe der eigenen Grundwerte und Ziele. Nötig ist die Öffnung von Struktur, Kultur und Ästhetik der SPD für neue Milieus, vor allem für junge Menschen, die der Partei noch fern stehen.

Erik Flügge ist Politologe und Germanist. Er arbeitet als Wissenschaftler für das Politik- und Sozialforschungsinstitut SINUS. Zusätzlich verbindet er als PR-Stratege Wissenschaft und praktische Kommunikation.

Autor*in
Erik Flügge
Erik Flügge

ist Politikberater, Autor, Beteiligungsexperte und SPD-Mitglied.

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