Matthias Hey: Neuwahlen in Thüringen wären der Super-GAU
Dirk Bleicker
Mit knapp 40 Prozent der Stimmen haben Sie in Gotha – gegen den Landestrend – das einzige Direktmandat der SPD in Thüringen verteidigt. Wie haben Sie das gemacht?
Wenn ich das wüsste, würde ich es in Dosen füllen und ans Willy-Brandt-Haus schicken. Das eine Erfolgsrezept gibt es nicht. Es ist eine Mischung aus vielen Dingen. Ich bin z.B. in sehr engem Kontakt mit Vereinen vor Ort und versuche ihnen, wo es nötig ist, zu helfen. Mein Bürgerbüro am Gothaer Marktplatz ist jeden Tag von 10 bis 18 Uhr geöffnet, was auch sehr rege angenommen wird. Der persönliche Kontakt ist für mich sehr wichtig. Wenn sich das auch in Prozenten auszahlt, freut mich das natürlich.
Im Rest von Thüringen sieht es für die SPD deutlich schlechter aus. Was bedeutet ein Ergebnis von 8,2 Prozent für die Partei?
Die Umfragen der letzten Wochen haben ja schon nichts Gutes erahnen lassen. Deshalb waren wir am Wahlabend bereits auf das Schlimmste gefasst. Dazu kommt, dass die Lage ähnlich war wie in Sachsen und in Brandenburg. Dass wir vom Bundestrend verschont bleiben, hat auch niemand geglaubt. Trotzdem sind diese acht Prozent ein Schlag in die Magengrube. Deshalb ist mir heute trotz meines eigenen Ergebnisses eher zum Heulen zu Mute.
Rot-Rot-Grün hat im künftigen Landtag keine Mehrheit mehr. Die Regierungsbildung scheint sehr schwierig zu werden. Sehen Sie eine Lösung oder läuft alles auf eine Neuwahl hinaus?
Im Moment überstürzen sich in Thüringen die Ereignisse. Heute Morgen hat CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring gesagt, er könne sich vorstellen, mit Bodo Ramelow (Spitzenkandidat der Linkspartei, Anm.d.Red.) zu reden, obwohl seine Partei eine Koalition mit der Linkspartei eigentlich ausgeschlossen hat. Schon das zeigt, dass sehr viel in Bewegung ist. Ein Ergebnis wie jetzt in Thüringen haben wir in Deutschland noch nie erlebt. Es ist eine Belastungsprobe für die parlamentarische Demokratie in unserem Land – aber eine, die wir bestehen müssen und werden. Doch auch wenn die Situation kompliziert ist, dürfen wir auf keinen Fall zulassen, dass die Thüringerinnen und Thüringer in einem halben oder in einem Jahr nochmal an die Wahlurne gebeten werden. Das wäre ein Super-GAU.
Die AfD hat in allen Altersgruppen außer bei den Über-60-Jährigen die Landtagswahl sogar gewonnen. Wie erklären Sie sich das?
Die Menschen in Ostdeutschland fühlen sich auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer zurückgesetzt. Gerade die, die nach der Wiedervereinigung arbeitslos geworden sind, sich danach von Job zu Job gehangelt haben und nun von einer kleinen Rente leben müssen, können die Versprechen nicht mehr hören, dass die Lebensverhältnisse in Ost und West irgendwann mal angeglichen werden sollen. Da ist es kein Wunder, dass sie Leuten wie Björn Höcke aufsitzen, die ihnen krude Versprechungen machen.
Was lässt sich dagegen machen?
Wir müssen das Gefühl der Ostdeprivation wie es Soziologen nennen, aufnehmen und intensiv mit den Menschen sprechen. Es gibt viel zu wenig Gesprächsmöglichkeiten, bei denen sich Menschen mit ihren Sorgen äußern können. Die AfD bietet ihnen das und verspricht „Vollende die Wende“. Die anderen Parteien sind bisher sprachlos. Deshalb brauchen wir in allen Parteien deutlich mehr Bemühungen, um das, was nach dem Mauerfall auch an Unrecht geschehen ist, endlich aufzuarbeiten. Darauf warten die Menschen. Wenn wir ihnen eine Stimme geben, haben wir auch eine Chance, sie wieder von der AfD abzuziehen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.