Kevin Kühnert: „Wir betteln nicht nur am Katzentisch, sondern können Entscheidungen beeinflussen“
Sie waren früher Linksaußen beim Handball, heute sind Sie der Linksaußen der SPD. Ist das ein konsequenter Weg?
Kevin Kühnert: Ich habe auch am Kreis gespielt, insofern beherrsche ich verschiedene Rollen, aber auf Linksaußen fühle ich mich wohl.
Sie haben eine rasante Entwicklung in Ihrem ersten Jahr als Juso-Vorsitzender hinter sich. War es – um in der Handball-Sprache zu bleiben – ein Jahr wie ein Tempogegenstoß?
Ja, aber man muss den Ball am Ende des Tempogegenstoßes auch reinmachen. Als ich mich entschieden habe, für den Juso-Vorsitz zu kandidieren, liefen noch die Jamaika-Verhandlungen. Wären wir jetzt in der Opposition und Jamaika würde regieren, wäre alles ganz anders gekommen. Den Jusos kommt heute eine sehr gewichtige Rolle in der Partei zu. Das muss auch so sein. Ich merke in Gesprächen, dass viele den Kontakt zur SPD halten, weil sie merken, da bewegt sich auch durch die Jusos gerade etwas. Deswegen ist es wichtig, dass es einen kritischen Jugendverband gibt, der nicht jeden Kompromiss mitgeht und eigene Positionen lautstark nach außen vertritt – auch wenn das manchmal einen Konflikt nach sich zieht. Niemand hat Lust auf stromlinienförmige Parteien.
Sie haben vehement eingefordert, dass die Liste der SPD zur Europawahl jünger und weiblicher werden müsse. Nun kandidieren die Juso-Kandidaten Delara Burkhardt und Tiemo Wölken auf den Plätzen fünf und zwölf. War das Ihr größter Erfolg als Juso-Vorsitzender?
Ein Erfolg ist es erst, wenn die Europawahl durch ist und die beiden mit möglichst vielen anderen Sozis im Parlament sitzen. Doch die Debatte hat gezeigt, dass das Gerede um die Erneuerung nicht nur Parole ist, sondern dass die Parteispitze und die Delegierten bereit sind, dafür etwas in die Waagschale zu werfen. Es war ein schönes Zeichen, dass Andrea Nahles und Lars Klingbeil die Positionierung junger Kandidaten auch zu einer Frage der politischen Führung gemacht haben. Sie haben dafür viel Gegenwind kassiert, aber nur so kann es funktionieren.
Bei der Europawahl im Mai droht ein Rekordergebnis rechter Parteien. Ist das die größte Herausforderung für Ihr zweites Jahr als Juso-Vorsitzender?
Die Europawahl wird der Meilenstein in diesem Jahr. Wir müssen die EU nicht nur gegen rechts verteidigen, sondern weiterbringen als sie jetzt ist. Denn es lässt einen nicht kalt, wenn man sieht, wie die rechten Regierungen in Österreich oder Italien mit geflüchteten Menschen umgehen, wie in Ungarn oder Polen die Pressefreiheit und die Rechte der Justiz eingeschränkt werden. Dem muss man sich entgegensetzen. Wir dürfen aber nicht die Erzählung der Rechten bestätigen, dass sie alleine gegen alle demokratischen Parteien stehen. Wir müssen auch klar machen, was uns inhaltlich von Emmanuel Macron oder Jean-Claude Juncker unterscheidet. Wir sind nicht zufrieden damit, dass Unternehmen weitgehend ohne Besteuerung agieren können oder dass Ryanair in Deutschland Beschäftigte zu schlechten irischen Arbeitsbedingungen anstellt. Viele schauen skeptisch darauf, ob Europa diese Probleme regeln kann – und ob Europa das wirklich will.
In der vergangenen Woche ist wieder ein Boot mit fast 200 Menschen auf dem Mittelmeer gesunken. Welche Ansätze haben Sie in der Migrationspolitik?
Gesine Schwan hat im vergangenen Jahr einen sehr guten Vorschlag gemacht. Es geht um ein Bündnis der Humanität. Diejenigen Kommunen, die bereit sind, mehr Menschen aufzunehmen, sollen nicht nur das Geld für deren Integration bekommen, sondern zusätzlich die gleiche Summe für Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Damit gilt: Wer Flüchtlinge aufnimmt, tut etwas dafür, dass die Infrastruktur erhalten und die Gemeinschaft gestärkt wird. Das ist ein sehr sozialdemokratischer Ansatz und viele Städte haben schon ihre Bereitschaft erklärt. Übrigens auch in rechts regierten Ländern.
Auf dem Juso-Bundeskongress wurde ein Antrag verabschiedet, in dem die Abschaffung der Abtreibungs-Paragrafen 218 und 219a im Strafgesetzbuch fordert. Danach gab es Beleidigungen und Morddrohungen für einige Jusos. Wie haben Sie darauf reagiert?
Für die betroffenen Genossinnen war und ist das besonders heftig. Für sie gibt es zum Teil bis heute keine Normalität, sondern Drohungen und Anfeindungen. Das zeigt auf eine schaurige Art, wie verroht die politische Diskussionskultur teilweise ist. Uns war es wichtig, grundsätzlich über die Kriminalisierung von Abtreibung zu diskutieren und klarzumachen, dass für uns die gesellschaftliche Debatte um Schwangerschaftsabbrüche nicht beendet ist. Dass Schwangerschaftsabbrüche immer noch illegal sind, ist nichts, was eine Partei, die für die Selbstbestimmung von Frauen einsteht, zufriedenstellen kann.
Bildlich wird häufig von den Jusos als „Stachel im Fleisch der SPD“ gesprochen. Ist dieser Stachel aktuell stärker denn je?
Wir haben zurzeit etwa 80.000 Mitglieder, so viele wie lange nicht mehr. Viele junge Menschen haben gemerkt, dass es sich lohnt, zu den Jusos zu gehen, wenn es um die politische Vertretung der Interessen ihrer Generation geht. Wir genießen heute eine öffentliche Wahrnehmung, mit der wir auch Forderungen platzieren können. Wir müssen nicht nur am Katzentisch betteln, sondern können Entscheidungen auch wirklich beeinflussen. Das wollen wir nutzen.
Sie waren kürzlich bei der Demo „#fridaysforfuture“. Ist das ein klares Bekenntnis zum Kohleausstieg?
Der Abbau von Kohle löst keine romantischen Gefühle in mir aus. Mir geht’s natürlich um die Frage, was mit den Menschen passiert, die in diesem Bereich arbeiten. Das beschäftigt übrigens auch die demonstrierenden Schüler. Da geht es um finanzielle Dinge ebenso wie um Weiterqualifizierungen. Ich wünsche mir aber unabhängig davon von der SPD das Bekenntnis, dass wir, so schnell wie es sozial und organisatorisch möglich ist, aus der Kohle aussteigen. Weil es um nicht weniger als unsere Lebensgrundlagen geht. Mit dem Klima können wir nicht verhandeln.
Auf welche anderen „Zukunftsthemen“ setzen die Jusos?
Europa. Denn die großen Gerechtigkeitsfragen können im Nationalstaat nicht mehr gelöst werden. Das sehen wir bei der Frage gerechter Besteuerung großer Konzerne, beim Klimaschutz oder bei gerechtem Handel. Wir wollen Strukturen auf europäischer Ebene demokratisieren. Es stinkt den Leuten, dass es immer Hinterzimmerrunden von vermeintlichen Experten gibt, aber das Parlament keine eigenen Gesetze einbringen kann. Das sollte zügig geändert werden. Ebenso wie das Prinzip der Einstimmigkeit.
Ende des Jahres endet ihre erste Amtszeit als Juso-Vorsitzender. Wollen Sie noch einmal kandidieren?
Ich habe jedenfalls große Lust, noch einmal anzutreten. Es waren bisher 14 intensive Monate, aber ich fühle mich da, wo ich bin, genau richtig. Die Jusos sind gerade einer der spannendsten Orte, um Politik zu machen.
Zum Schluss noch einmal sportlich: Sie sind Fan von Arminia Bielefeld. Warum?
Das hat etwas mit Solidarität mit den Schwachen zu tun und ist in diesem Sinne eigentlich eine sehr sozialdemokratische Geschichte. Ich habe irgendwann gelesen, dass Arminia Bielefeld der unbeliebteste Profiverein in Deutschland sei. Das fand ich absurd. Deswegen habe ich mich mit dem Verein auseinandergesetzt und bin mal auf die Alm gefahren. So wurde aus Sympathie Zuneigung und ich freue mich schon jetzt auf mein Heim-Auswärtsspiel bei Union in drei Wochen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo