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Jo Leinen: „Teilweise grässliche Unkenntnis über Europa“

von Karsten Wiedemann · 5. Juni 2009
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Gratulation, Herr Leinen. Laut Bericht der "B.Z." verdienen Sie als EU-Parlamentarier mehr als die Bundeskanzlerin.

Das stimmt nicht. Unser Grundgehalt ist exakt das Einkommen eines Bundestagsabgeordneten. Auch mit dem neuen Europastatut ab der neuen Legislaturperiode ändert sich das nicht. Was die Europaparlamentarier, aber auch die Bundestagsabgeordneten bekommen, sind Kostenvergütungen für die Reisen zwischen den Arbeitsplätzen in Straßburg und in Brüssel.

Ist diese Behauptung ein weiteres Beispiel dafür, wie wenig teilweise auch in den Medien über die EU bekannt ist?

Es gibt da eine grässliche Unkenntnis und auch Unwissenheit. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass gewisse Leute sich da nicht wirklich informieren wollen, sondern ihre Vorurteile gegen die Europäische Union und auch gegen das Europäische Parlament pflegen wollen. Das ist leider Methode und schadet auch der Europapolitik.

Sie haben kürzlich gesagt, dass die Europawahl eine "Richtungswahl" ist. Zwischen welchen Alternativen müssen sich die Wähler denn entscheiden?

Wir haben einmal die Alternative pro Europa und anti-Europa. Leider gibt es ja mit der Linken in Deutschland jetzt auch eine politische Kraft, die auf Antikurs geht und die nächste Etappe der europäischen Einigung ablehnt. In anderen Mitgliedsstaaten ist das noch schlimmer, insbesondere in Großbritannien, wo wir vielleicht mehr europaskeptische Parteien in das Parlament bekommen, als pro-europäische Kräfte.

Dann geht es bei der Europawahl aber auch um die Frage, ob das neoliberale Europa weiter die Mehrheit hat oder ob wir einen neuen Kurs für ein soziales Europa einschlagen können.

Also, wenn man so will, gibt es die klassische Rechts-Links-Auseinandersetzung nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene.

Der Europawahlkampf wurde immer gerne für innenpolitische Debatten genutzt. So forderte die Linkspartei diesmal auf ihren Plakaten "Raus aus Afghanistan", obwohl die EU darüber gar nicht zu entscheiden hat. War auch der aktuelle Wahlkampf innenpolitisch überlagert?

Vor fünf Jahren war es noch schlimmer. Da war der Europawahlkampf ganz im Schatten der Agenda-2010-Debatte. Jetzt ist kein großes Antithema vorhanden, aber man muss sagen, es hat sich auch nicht richtig eine Kontroverse um die Richtung, die weitere Orientierung der EU herauskristallisiert. Der Wahlkampf dümpelt etwas daher.

Diese Forderung "Raus aus Afghanistan" hat in der Tat nichts mit der EU zu tun. Das ist Sache der Nato. Diese Verwechslung wird gerne und auch bewusst gemacht, um die EU in Misskredit zu bringen.

Die SPD hat ja mit dem sozialen Europa und mit der Kontrolle der Finanzmärkte eine Vorlage gemacht. Meines Erachtens haben die Christdemokraten Kreide gefressen. Sie agieren ganz anders, als sie jetzt reden. Und die Liberalen sind auch in Deckung gegangen. Das sind ja eigentlich die Vertreter des Großkapitals und der Großbanken. Die sind auf Tauchstation gegangen. Das macht es schwierig, einen Wahlkampf zu machen.

Mit welchen Mitteln kann man ein soziales Europa erreichen, denn die Einkommensunterschiede in den 27 EU-Staaten sind ja noch relativ groß?

Die SPD fordert einen sozialen Stabilitätspakt für Europa. Wir haben seit vielen Jahren den monetären Stabilitätspakt, der die Länder zusammengeführt hat auf einem hohen Niveau. Genauso muss es gelingen, durch politische Vereinbarungen oder auch durch ein Europagesetz die Sozialleistungen zu stabilisieren und nicht weiterhin einen Wettlauf nach unten zuzulassen. Bei einem entsprechenden politischen Willen ist das sowohl juristisch, wie auch natürlich politisch machbar.

Der Lissabon-Vertrag, der die EU und ihre Institutionen demokratischer machen soll ruht derzeit. Erwarten Sie nach der Europawahl einen neuen Schub?

Der Lissabon-Vertrag ruht nicht, sondern die Ratifizierung geht in Etappen weiter. Wir warten jetzt auf das Referendum in Irland im Oktober. Da sieht es sehr gut aus, weil die Bevölkerung in Irland gemerkt hat, dass der Schutzschirm der EU ganz wohltuend ist in dieser Finanz- und Wirtschaftskrise.

Mit diesem Reformvertrag gibt es wirklich einen Quantensprung nach vorne für mehr Offenheit der EU, für mehr Bürgerrechte und mehr Bürgerbeteiligung in der Europapolitik. Ich würde sagen, zu den nächsten Europawahlen im Jahr 2014 sieht die Welt ganz anders aus. Die Voraussetzungen werden viel besser, Europapolitik zu verstehen und sich auch an ihr zu beteiligen.

Interview: Karsten Wiedemann

Jo Leinen sitzt seit 1999 für die SPD im Europaparlament. Er ist 2004 Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. www.joleinen.de

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Karsten Wiedemann

Redakteur bei vorwaerts.de bis September 2009, jetzt Redakteur bei Neue Energie, dem Magazin des Bundesverbands für Windenergie

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