Hans-Jochen Vogel zum 90: Ordnung ist das ganze Leben
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Wer Hans-Jochen Vogel zu seinem 90. Geburtstag würdigen soll, könnte es sich ganz einfach machen: Er müsste nur alle Ämter aufzählen, die er korrekt, erfolgreich, oft auch vorbildlich versehen hat, dann all die unzähligen Ehrungen und Orden erwähnen, die ihm zwischen 1960 und 2016 zuteil geworden sind und schließlich noch auf das verweisen, was er an Büchern, Reden und Aufsätzen der Nachwelt hinterlässt.
Dabei würden die zwölf Jahre als Oberbürgermeister von München schon viele Seiten füllen, die Wahl des 34-Jährigen, seine triumphale Wiederwahl. Wer heute, ein halbes Jahrhundert danach, mit ihm durch München geht und in die Gesichter der älteren Menschen sieht, die ihn freundlich, oft strahlend begrüßen, der kann ahnen, was er für die bayerische Hauptstadt bedeutet hat. Hier ist er zuhause, in seiner Stadt, die er mit geprägt hat.
Als Justizminister gefordert wie kaum ein zweiter
Dann wäre von dem Bundesminister zu reden, erst im Kabinett Brandt „für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau“, wo er seine Münchner Erfahrungen verwerten konnte, schließlich als Justizminister von 1974 bis 1981 im Kabinett Schmidt. Kaum ein Justizminister ist so gefordert und geprüft worden wie er, als fanatisierte Studenten allen Ernstes glaubten, mit Entführungen und Morden die Revolution gegen das verhasste „System“ auslösen zu können. Ihm blieb es nicht erspart, zwischen der Rettung eines Menschen und der Autorität des Rechtsstaates zu wählen.
Und schließlich war Hans-Jochen Vogel nicht nur acht Jahre lang Vorsitzender einer Bundestagsfraktion, die Chefs vom Rang eines Fritz Erler, Helmut Schmidt und Herbert Wehner gewohnt war, er war auch, als direkter Nachfolger von Willy Brandt, von 1987 bis 1991 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, erst der westdeutschen, dann der gesamtdeutschen Partei. Im Rückblick wird man sagen können: Leider nur bis 1991, denn die Generation, der er, bescheiden wie immer, Platz machte, hat erst erkennen lassen, was wir an Vogel hatten.
Hans-Jochen Vogel wäre ein guter Kanzler gewesen
Es stimmt, Hans-Jochen Vogel hat auch für die Kanzlerschaft kandidiert, nachdem Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum und das Umschwenken der FDP Kanzler geworden war. So wusste Vogel, dass seine Chancen begrenzt waren, vielleicht auch, dass man, um Kanzler zu werden, andere Stärken braucht als um Kanzler zu sein. Er verlor erwartungsgemäß. Aber er wäre ein starker, gewissenhafter, guter Kanzler geworden.
Jeder Politiker hat auch seine schwachen Seiten. Wenn ihm das schlimmste Laster der Politik, die Eitelkeit, fremd ist – und das ist bei Vogel der Fall, dann findet man es in Kleinigkeiten. Bei ihm waren es die Klarsichthüllen, in die er seine Weisungen, seine Anregungen, seine Gesprächsergebnisse verpackte. Dabei ging es ihm einfach um einen geordneten Betrieb. Politik war für ihn verantwortliches Handeln für andere, für das Ganze, und das duldete keine Schlamperei.
Ein Denken und Leben in Ordnung
Ordnung, das ist ein Stichwort, das in der politischen Geografie eher rechts als links gilt. Aber wahrscheinlich hat Politik immer auch eine ordnende Funktion. Sie muss sagen, was Recht und was Unrecht ist, wo die Freiheit des einen an der Freiheit des anderen ihre Grenze findet, wo jede und jeder mit Strafe rechnen muss und wo nicht. Politik hat das Chaos zu meiden, zu bändigen, zu verhindern. Der Staat ist immer der Versuch einer Ordnung, im besten Fall einer menschenfreundlichen.
Was der Bauminister Vogel mit seiner kommunalen Erfahrung in Sachen Bodenrecht versuchte, war auch eine Ordnung, eine neue, gerechtere. Aber sie kollidierte mit so vielen mächtigen Interessen, dass sie nicht durchsetzbar war. Das ist eine typisch linke Erfahrung.
Für Leute, die gern zwischen rechten und linken Sozialdemokraten unterscheiden, war Hans-Jochen Vogel ein rechter. Sicher, er wollte ein Mindestmaß an Ordnung, an Verlässlichkeit, Rücksichtnahme, auch in der Partei. Wenn es um das Programm der Partei ging – und geht, kann er oft Positionen vertreten, die als links gelten. Das gilt heute etwa für die Steuerpolitik. Gerade weil die Vertiefung des Grabens zwischen Arm und Reich die friedliche Ordnung der Gesellschafft – und damit den demokratischen Rechtsstaat bedroht, muss die steuerliche Ordnung diese Vertiefung bremsen oder stoppen. So denkt man eher links.
Kurz: Dass der Jurist Hans-Jochen Vogel in Ordnungen denkt, bedeutet nur, dass er weiß, was ein Staat ist, nicht, dass er in diesem Staat nichts verändern will.
Der erste praktizierende Katholik an der Spitze der SPD
Hans-Jochen Vogel hat im Jahr 2001 einmal von sich gesagt, er sei der erste – in seinem kirchenrechtlichen Status infolge Wiederverheiratung allerdings eingeschränkte – praktizierende Katholik an der Spitze der SPD gewesen. Sonntags geht er mit seiner – evangelischen – Frau abwechslungsweise in den katholischen und den evangelischen Gottesdienst. Er leidet unter einem Kirchenrecht, das ihn in seiner Kirche von der Eucharistie ausschließt. Er zweifelt wohl auch, ob die Art, wie die katholische Kirche mit Menschen umgeht, die nach einer Scheidung wieder heiraten, klug ist. Aber solange die Bestimmung gilt, respektiert er sie. Im Prinzip hat für ihn auch die Kirche das Recht, sich eine Ordnung zu geben. Er will sie ändern, nicht nur, weil sie in sein eigenes Leben eingreift.
In einer Welt, in der Staaten zerfallen, Gewaltchaos sich ausbreitet und deshalb Millionen Flüchtlinge umherirren, wird leichter verständlich, was diesen Sozialdemokraten antreibt: Er weiß, nicht nur, weil er ein glänzender Jurist ist, dass Menschen Ordnungen brauchen, wenn sie friedlich miteinander leben wollen. Daher will er solche Ordnungen, ob sie nun Gesetzesform haben oder nicht, menschenfreundlicher machen. Wer den Eindruck erweckt, es gehe ohne solche Ordnungen besser, muss mit seinem energischen Widerspruch rechnen. Wer mit überlebten Satzungen hadert, kann mit seinem Verständnis rechnen, auch mit seinem Reformwillen.
Jochen, Du bist unser wichtigstes Stück!
Wenn er nun seinen 90. Geburtstag feiert, feiern viele mit ihm, auch das Häuflein der überlebenden Altersgenossen, die mit ihm erfahren haben, was Krieg ist, mit ihm die befreiende Katastrophe 1945 überlebt haben und dann mit ihm an der deutschen Demokratie mitgebaut haben. Sie dürften sich in einem einig sein: Du, Jochen, bist unser wichtigstes, bestes Stück. Als junger OB von München hast Du viele von uns motiviert. Deine uneitle Beständigkeit und Zähigkeit haben uns geholfen, durchzuhalten.
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