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Ich gehöre zu seinen Bewunderern und freue mich über seine nicht zu bremsende Schaffenskraft und Schaffensfreude. Wir treffen uns bei Montaigne, Heine und Nicolas Born, in Bomarzo, Prag und Amsterdam, in den Antiquariaten und Trödelläden der Welt. Er hat viele Talente, was ihn aber nicht daran gehindert hat, sich als Sprachkünstler das Beiwort genial zu verdienen.

In der Nationalbibliothek in Leipzig hat man bisher 242 Werke von seiner Hand gesammelt: Lyrik- und Essaybände, Erzählungen, Autobiographisches usw. Bei mir belegt er fast zwei Regalmeter. Er publiziert in Zeitungen und Zeitschriften, schreibt Vor- und Nachworte, hat mit Hörspielen, Filmen und Drehbüchern Lob und vor allem Tadel in der DDR geerntet, für Ulenspiegel und Eulenspiegel getextet und gezeichnet, einige seiner Bücher mit Zeichnungen und Radierungen illustriert.

In der DDR kam dieser intellektuelle Wirbelwind, der für Becher und Brecht unter der Rubrik "großes Talent" lief, immer weniger zurecht. Nach der Ausbürgerung Biermanns, gegen die er mit anderen protestierte, wurde er mit einem Dauervisum ausgestattet und mehr oder weniger höflich außer Landes gebeten. Der Mann aus der Mitte Berlins, in der Chausseestraße geboren, wurde 1979 zum Schleswig-Holsteiner Landbewohner.

Ich schätze an ihm die Eigenwilligkeit, die Unangepasstheit, von der die zweifellos auch vorhandene Eitelkeit überstrahlt wird - was vielen unserer Großschriftsteller nicht gelingt.
Anerkennung ist schon prima, aber nicht zum Preis der Anbiederung. Dieses Sichentziehen jeglicher Vereinnahmung hat ihn schon früh in die Bredouille gebracht und sein gutwilliges Bemühen, mit der SED eine bessere Welt zu bauen, ist daran gescheitert, dass er zu anspruchsvoll war, zumindest was Charakterstärke und Wahrhaftigkeit angeht.

Dichter des geteilten Deutschlands

Der wissenschaftstrunkenen Elite der DDR musste seine notorische Ungläubigkeit - man hätte ihn besser Thomas als Günter getauft - ein Gräuel sein. Mit Theodor Lessing, den er Anfang der Siebziger zum ersten Mal las, konnte er mehr anfangen als mit Karl Marx. Mit "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" formulierte Lessing schärfer, was schon Friedrich Schlegel mit seiner Bemerkung, Geschichte sei rückwärtsgewandte Prophetie, behauptet hatte.

Kunert ist für viele der Dichter des geteilten Deutschlands, andere beklagen seinen angeblich unheilbaren Pessimismus, nennen ihn die Kassandra aus Kaisborstel. Das beschreibt ihn aber nicht richtig, man muss ihm nur ins Gesicht sehen. Eine Kassandra mit Lach-, Zwinker- und Schmunzelfalten? Ich weiß nicht. Für mich ist er ein Seismograf, der Veränderungen und Tendenzen spürt, manchmal schmerzlich spürt. Es sind die kleinen Meldungen, hinter denen die großen Katastrophen bereits aufscheinen, die seinem scharfen Blick nicht entgehen.

So ist er ein früher Ökologe aus eigener Erkenntnis, bereits in seiner Zeit im Ostberliner Kulturbetrieb. Wer den Umgang mit der Erde oftmals elegisch beklagt, aber dieselbe derart vehement - mit Ausbrüchen von Lebensfreude kombiniert - verteidigt, singt keinen Sterbegesang, sondern vermittelt Hoffnung und erteilt Aufträge.

Autor*in
Reinhard Klimmt

war von 1998 bis 1999 Ministerpräsident des Saarlandes und von 1999 bis 2000 Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen.

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