Parteileben

Godesberg verpflichtet

von Hubertus Heil · 9. November 2009
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Die Partei war frustriert. Nach den Niederlagen bei den Bundestagswahlen 1949, 1953 und 1957
sah sich die SPD an den Rand gedrängt. Das Bedürfnis nach einer umfassenden Erneuerung - organisatorisch, personell und programmatisch - verstärkte sich.

Mit dem Godesberger Parteitag 1959 vollzog die SPD den Schritt von der Arbeiter- zur Volkspartei. Seitdem sieht sich die SPD nicht als Partei einer gesellschaftlichen Gruppe, Klasse oder Schicht, sondern als Gemeinwohlpartei. "Godesberg" ist der Inbegriff für politische Modernisierung und Öffnung. Mit der Absage an jeden Dogmatismus, der Verständigung auf Grundwerte und Grundforderungen präsentierte sich die SPD als progressive Volkspartei, die über die traditionelle Anhängerschaft hinaus für viele wählbar wurde.

Das Godesberger Programm riss Hürden ein - so etwa zwischen der SPD und den Kirchen, insbesondere der ka­tholischen. Geistiger Vater war Willi Eichler. Er war es, der den demokratischen Sozialismus als dauernde Aufgabe definierte, Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren. In klarer Abgrenzung zu marxistisch-leninistischem Politikverständnis verzichtete die freiheitliche Sozialdemokratie auf die Verkündung letzter Wahrheiten und historischer Ziele.

In diesem Programm bekannte sich die SPD klar zur sozialen Marktwirtschaft. "So viel Markt wie möglich, so viel Planung wie nötig" hieß das Credo sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Basis dieser Grundüberlegung reklamierten Sozialdemokraten wie Heinrich Deist, Karl Schiller und Helmut Schmidt in den folgenden Jahren erfolgreich ökonomische Kompetenz für die SPD. Vor allem aber ist das Godesberger Programm durchdrungen vom Geist des Grundgesetzes. Es betont die Würde des Menschen und bekräftigt die Grundrechte. Sie sollen nicht abstrakte Versprechen sein, sondern soziale Wirklichkeit werden.

Angst vor Profilverlust

Heute wird oft vergessen, dass es gegen diese Neuerungen massiven Widerstand gab. In den Wahlkämpfen 1961 und 1965 musste sich Kanzlerkandidat Willy Brandt oft anhören, dass er in den Jahren nach Godesberg die SPD bis zur Unkenntlichkeit in die politische Mitte geführt habe. Viele Ältere befürchteten, dass die SPD als "Volkspartei" zu einer schwammigen Allerweltspartei würde. Der Stil der neuen Führungsgeneration um Willy Brandt verstärkte diesen Verdacht. Der Abschied von klassischen Ritualen und neue Kommunikationsformen in der sich wandelnden Mediengesellschaft der 60er Jahre verstörten viele in der Partei - halfen aber, umso mehr Menschen außerhalb der Partei anzusprechen.

Das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD aus dem Jahr 2007 steht in der Godesberger Tradition. Mit dem Anspruch, sich an die solidarische Mehrheit in Deutschland zu wenden, will die SPD linke Volkspartei bleiben. Die dramatische Wahlniederlage vom 27. September 2009 verdeutlicht die Notwendigkeit, diesen programmatischen Anspruch auch praktisch zu erneuern. Tatsache ist, dass die Volksparteien zugunsten von Klientelparteien verloren haben. Daraus sollte die SPD aber nicht die Konsequenz ziehen, sich politisch zu verengen. Sie muss glaubwürdig ihren Anspruch als gemeinwohlorientierte Partei erneuern, die soziale
Gerechtigkeit mit wirtschaftlicher Dynamik und ökologischer Vernunft verbindet.

Dafür ist es erst einmal notwendig, sich als selbstbewusste Opposition gegen Schwarz-Gelb im Bund aufzustellen. Auch hier hilft ein Blick ins Godesberger Programm: "Regierung und Opposition haben verschiedene Aufgaben von gleichem Rang; beide tragen Verantwortung für den Staat". Insofern muss die SPD als Oppositionspartei nicht nur die Fehler von CDU/CSU und FDP im Bund anprangern, sondern auch Alternativen bieten. Nur so wird sie Regierungsverantwortung zurückerlangen. Es gilt also: Godesberg verpflichtet.

Autor*in
Hubertus Heil

ist Bundesarbeitsminister und stellvertretender Vorsitzender der SPD.

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