Parteileben

„Gefühl von Verlust“

von Kai Doering · 28. Mai 2013

Er wurde in der DDR geboren und wuchs im wiedervereinigten Deutschland auf. Alexander Fromm ist Mitglied der „Dritten Generation Ostdeutschland“. Im Interview mit vorwärts.de spricht er über seine Nachwende-Erlebnisse und die Ziele des Netzwerks, das heute mit dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis ausgezeichnet wird.

vorwärts.de: Erinnern Sie sich noch an den 9. November 1989?

Alexander Fromm: Leider nicht mehr so gut. Ich war damals 16 und weiß nur noch, dass der 9. November ein Donnerstag war und ich schon geschlafen habe als die Meldung, dass die Ausreise aus der DDR ab sofort möglich sei, im Fernsehen kam. Mein Vater hat mir dann am nächsten Tag erzählt, dass die Mauer offen ist. Schon die Wochen und Monate vorher waren ja eine verrückte Zeit. Jeden Abend gab es eine neue Entwicklung in den Nachrichten – erst die Fluchten über Ungarn, dann der Rücktritt von Erich Honecker. Man hatte das Gefühl, die Geschichte würde sich von Tag zu Tag beschleunigen.

Sie haben damals in Eisenhüttenstadt gelebt. Wie sah Ihre erste Begegnung mit dem Westen aus?

Ich habe nach dem 9. November noch eine Woche gewartet, ehe ich mich auf den Weg nach West-Berlin gewagt habe. Mein Bruder lebte zu der Zeit in Kreuzberg. Wir hatten uns nach seiner Ausreise 1986 nicht mehr gesehen. Insgesamt hat mich West-Berlin nicht überrascht. Es wirkte auf mich grau und nicht sehr viel anders als der Ostteil der Stadt. Nur die Grünanlagen waren anders. Es gab da diese gusseisernen Metallzäunchen, die in den Parkanlagen die Rasenflächen abgrenzten, solche wie auf den Fotos aus der Jahrhundertwende. Die gab es im Osten damals nicht.

Was bedeutet es für Sie, ostdeutsch zu sein?

Für mich bedeutet es, eine andere Herkunft zu haben als Menschen, die in Essen, Hamburg oder München geboren wurden. Meine Generation, die zwischen 1970 und 1985 in der DDR Geborenen, ist in zwei Gesellschaftssystemen aufgewachsen. Wir haben die DDR als pseudo-sozialistischen Staat erlebt und erleben nun die Bundesrepublik als pseudo-kapitalistischen Staat. Wir haben auch erlebt, dass ein Staat einen anderen ablösen kann, dass also nichts in Stein gemeißelt ist, auch wenn es so wirkt. Das hat schon einen Einfluss auf die eigene Identität.

Es gibt also eine eigene ostdeutsche Identität?

Auf jeden Fall. Man kann sie nicht direkt an bestimmten Parametern festmachen, aber zum Beispiel erlebe ich es immer wieder auf Partys, dass sich Menschen in einer Gruppe zusammenfinden, sich gut verstehen und irgendwann stellt sich heraus, dass sie alle Ostdeutsche sind. Sie haben wahrscheinlich zueinander gefunden, weil sie dieselben prägenden Erfahrungen gemacht haben. Sie haben im Kindergarten dieselben Lieder gesungen und sind mit denselben Kinderbüchern aufgewachsen. Die DDR war ja ein sehr egalitärer Staat. Dadurch gibt es eine kollektive Erfahrung, die im Westen so nicht zustande gekommen ist. Diese Prägungen verbinden die jungen Ostdeutschen und lassen Westdeutsche verwundert außen vor.

Sie gehören zur dritten Generation, die in der DDR geboren wurde. Was zeichnet diese aus?


An zentraler Stelle ein Gefühl von Verlust. Prägend waren dabei die Erfahrungen, die viele von uns nach der Wiedervereinigung gemacht haben: der Zusammenbruch eines politischen Systems, die Arbeitslosigkeit der Eltern, der Umbau und Abriss ganzer Stadtviertel. Für viele von uns sind Eckpunkte unserer Kindheit wie die Schule oder die Wohnung, in der wir aufgewachsen sind, nicht mehr da, weil die Menschen abgewandert sind und die nicht mehr benötigten Gebäude großflächig abgerissen wurden. Für viele ist die frühere Heimat virtuell geworden und existiert nur noch auf Fotos. Aber natürlich gibt es auch positive Erfahrungen. Ich bin zum Beispiel sehr viel gereist, nachdem die Mauer gefallen war. Unsere Generation war die erste, die auf einen Schlag alle Freiheiten hatte.

2009 hat sich die „Dritte Generation Ostdeutschland“ als Initiative junger Ostdeutscher gegründet. Was war der Auslöser?

Anlass war indirekt das historische Datum. Anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls gab es jede Mengen Sendungen im Fernsehen, in denen über die Ereignisse im November 1989 berichtet wurde. Zu Wort kamen damals aber nur ältere Männer – vornehmlich aus dem Westen. Die spätere Gründerin der Dritten Generation Ostdeutschland, Adriana Lettrari, fand sich da nicht abgebildet. Adriana hat dann weitere Menschen aus ihrem Umfeld angesprochen, was man gegen diese Vereinnahmung tun könnte und so ist die Initiative entstanden. Wir wollen einen Generationenwechsel insofern, dass auch die Jungen ihre Sicht der Dinge mitteilen und die Zukunft gestalten können.

Warum braucht es 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ein Netzwerk, das das originär Ostdeutsche betont?

Natürlich ist es gut, vor allem die Gemeinsamkeiten zu betonen und es gibt davon ja auch eine Menge zwischen Ost und West. Aber Unterschiede sind in einer pluralistischen Gesellschaft, in der wir nun mal leben, auch sehr wichtig. Es gibt ja auch Unterschiede zwischen Nord- und Süd-Deutschen, die von der Allgemeinheit akzeptiert sind und als wertvoll empfunden werden. Aus meiner Sicht sind unterschiedliche Erfahrungen und Herangehensweisen eine Stärke unserer Gesellschaft. Ein Essen wird ja auch erst schmackhaft, wenn man unterschiedliche Gewürze hinzufügt.

Auch bei den Einwanderern gibt es mittlerweile eine dritte Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, aber dennoch in der Heimat ihrer Eltern mit verwurzelt ist. Sehen Sie da Parallelen?

Die gibt es ganz sicher. Bildhaft sind sie geworden, als wir im vergangen Jahr unser Buch „Dritte Generation Ost“ herausgebracht haben. Gleichzeitig ist auch das Buch „Wir neuen Deutschen“ von drei jungen Frauen aus Einwandererfamilien erschienen. Das Interessante daran ist, dass der Untertitel beider Bücher identisch ist. Er lautet: „Wer wir sind, was wir wollen“. Wir haben bereits eine gemeinsame Lesung gemacht. Eine zentrale Gemeinsamkeit ist, dass wir alle noch nicht hundertprozentig in der westdeutschen Gesellschaft angekommen sind und ein latentes Fremdsein fühlen.

Auf Ihrer Internetseite sprechen Sie von den „besonderen Kompetenzen“ der Ostdeutschen. Welche sind das?

Dass Ostdeutsche besondere Kompetenzen haben, ist erstmal eine Theorie. Wir arbeiten daran, dass sich die jungen Ostdeutschen dieser Kompetenzen bewusst werden. Die Dritte Generation verfügt aus meiner Sicht über eine Vermittlungskompetenz zwischen Ost und West, da sie in beiden Systemen aufgewachsen und damit vertraut ist. Sie kann aber auch gut zwischen den Generationen vermitteln, weil sie ihren Eltern Fragen stellt, die sie als Kinder noch nicht stellen konnte. Meine Generation verfügt auch über eine Krisenkompetenz. Wir haben hautnah miterlebt, wie ein System, das als ewig galt, zusammenbricht. Das erlaubt eine gewisse Entspanntheit in der aktuellen Wirtschaftskrise.

Der Gustav-Heinemann-Bürgerpreis, den die Dritte Generation Ostdeutschland heute in Empfang nehmen wird, ist mit 10 000 Euro dotiert. Wissen Sie schon, was Sie mit dem Geld machen werden?

Endgültig entschieden haben wir uns noch nicht. Wir hatten mal ein Netzwerkbüro, das wir schließen mussten, weil die finanziellen Mittel aufgebraucht waren. Ich denke, das Preisgeld wäre gut für eine Person angelegt, die Ansprechpartner ist, Kontakt hält und Netzwerktreffen vorbereitet. Wir sind ja gerade dabei, einen gemeinnützigen Verein zu gründen. Da wird die Arbeit sicher nicht weniger werden.

Die Verleihung des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises findet ab 17 Uhr im Willy-Brandt-Haus, Wilhelmstraße 141 statt.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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