"Gabriel zog in seiner Rede in Dresden alle taktischen und rhetorischen Register"
"Es ist durchaus bemerkenswert an den Sozialdemokraten, dass sie sich an einem Tag zutiefst grämen, gegenseitig beschimpfen, in tiefe Lethargie stürzen und gemeinsam das ganze Jammertal des
eigenen
politischen Daseins durchschreiten können - nur um sich kurz darauf wieder an sich selbst zu begeistern. (…) Gabriels Triumph ist ein Anfang, mehr nicht.
Die SPD lebt nach dem Wahldebakel vom 27.September nicht von der normalen Hoffnung einer Partei, die Macht wieder zu erringen, sie muss sich an die Hoffnung klammern, dass sie sich nicht selber pulverisiert. In Dresden entwickelte sich ein Parteitag, auf dem jeder endlich folgenlos sagen konnte, was er wollte. Es war der Parteitag einer Oppositionspartei, die aus Mangel an Verantwortung Zeit für sich selber hat. Und die braucht sie auch."
Gabriel zog in seiner fast zweistündigen Bewerbungsrede am Freitagabend in Dresden alle taktischen und rhetorischen Register - und er wuchs über sich hinaus. Hinterlegte der geschlagene
Amtsvorgänger Franz Müntefering zuvor noch ein mit Mahnungen gespicktes Vermächtnis, so präsentierte sein selbstbewusster
Nachfolger den frustrierten Genossen fast so etwas wie eine sozialdemokratische Regierungserklärung. Welch ein Kontrast zur oberflächlichen, ja intellektuell fast armseligen Aussprache am
Nachmittag!
Gabriel versteckte sich nicht hinter Parteitags-Chinesisch, sondern legte eine schonungslose Analyse der historischen Wahlniederlage vor. Wer so hart verliert, hat in der Tat mehr als nur
ein Kommunikationsproblem. Die SPD, so der Befund des neuen Vorsitzenden, habe es nicht mehr geschafft, die Mitte der Gesellschaft und damit die Deutungshoheit für sich zu erobern. Dies gelinge
nur der politischen Kraft, die die richtigen Fragen der Zeit stelle und auch die richtigen Antworten darauf bereit halte.
Sigmar Gabriel gibt der SPD, wonach die Delegierten gegiert haben. Das Gefühl, wieder gefragt zu sein, eingebunden in die Politik der Partei und gebraucht in der Gesellschaft. Der Parteitag
hatte sich zuvor fünf
Stunden lang selbstbespiegelt. Von Können, von Selbstbewusstsein, vom Kämpfen ist in den 66 Wortmeldungen der Delegierten wenig zu hören.
Der Dresdner Parteitag ist nicht in erster Linie ein Signal nach außen, sondern war am Auftakt-Freitag jedenfalls zunächst eine nach innen gerichtete Wohlfühlveranstaltung. Jeder durfte endlich in jeder Länge sagen, was ihm oder ihr schon immer auf der Zunge lag. Das ist schön und wahrscheinlich gruppentherapeutisch notwendig.
Müntefering kann der Partei nicht mehr helfen, und auch die offene Aussprache, die in Dresden so penetrant beschworen wurde, kann es nur bedingt. Schon deshalb, weil es der SPD an
Selbstbespiegelung am allerwenigsten gefehlt hat. Was nützt es, wenn Sozialdemokraten noch inniger als bisher schon über den historischen Sinn von Hartz IV und Agenda 2010 streiten? Diese
manische Fixierung verstärkt eher den
Eindruck, dass gesellschaftliche Zukunftsfragen von der Bildung bis zur Klimapolitik bei der SPD kaum noch vorkommen.
Andreas Helsper studiert Informatik und Sozialwissenschaften in Wuppertal. Er engagiert sich seit 2005 in der SPD und seit 2007 studentischer Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten.