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„Ein Wissenschaftler am Spinnrad“

von Birgit Güll · 22. März 2011
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August Bebel habe Generationen von Sozialdemokraten erkennen lassen, dass Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit keine Zukunft habe, sagt Günter Grass. Der Schriftsteller betont, dass Bebel ihm ein Lehrer gewesen sei. Auch der Philosoph und Sozialwissenschaftler Oskar Negt habe eine Botschaft, "es ist die Botschaft von sozialer Gerechtigkeit", so Heribert Prantl in seiner Laudatio.

Vom Graben in schweren Böden

Zur allgemeinen Verwunderung spricht Prantl am Beginn seiner Rede über die Lieblingstiere von Oskar Negt und August Bebel. Bebel allerdings hat sich dazu nicht geäußert. Oskar Negts Vorliebe für Maulwürfe dagegen lässt Prantl tief blicken. Der Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) meint, dass Negt, genau wie der Maulwurf, den Boden bereite. Er sorge für Durchmischung, Lockerung und gestalte die Bedingungen für neues Leben. Die Arbeit des Sozialwissenschaftlers und Philosophen Negt sei etwas wie "das Graben in schweren Böden".

Es sei Negt gelungen, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, aus der er komme, und die nie bereit war, gesellschaftliche Fakten als gegeben hinzunehmen, zu erden und eine politisch-praktische Theorie daraus zu machen. Oskar Negt sei ein Spinner, "ein Wissenschaftler am Spinnrad, der Theorie und Praxis miteinander verbunden hat", so Prantl. Negt habe "der Kritischen Theorie die Praxis und dem Bebelianismus die Theorie hinzugefügt".

Von sozialer Gerechtigkeit und Schicksalskorrektur

Prantl lobt Negt als "öffentlichen Intellektuellen, frei von Arroganz, auf seinem Feld ein Schwerarbeiter". In diesem Sinne sei er "von bebelschem Format". Das Leben beginne ungerecht - schließlich wähle niemand die besseren Gene oder die bessere Familie - und es ende ungerecht, sagt Prantl. "Damit das Dazwischen gerecht ist, dafür stritt Bebel, dafür streitet Oskar Negt."

In Zeiten in denen betriebswirtschaftliche Rationalität an Stelle der ratio, der Vernunft der Aufklärung getreten sei, wie Prantl formuliert, würdigt der SZ-Ressortleiter den Sozialstaat als "Schicksalskorrektur". Er betont, dass Demokratie und Sozialstaat zusammen gehören. Dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern ein Leben lang gelernt werden müsse, sei "das Credo des politischen Menschen Oskar Negt".

Von Erinnerung als Grundlage für Utopien

Der Wissenschaftler zeigt sich so beeindruckt von Prantls Rede, dass er sein vorbereitetes Manuskript verwirft. Zuviel, dass er verkünden wollte sei bereits gesagt. Negt erinnert an Bebel und die Gründung der SPD, die ohne diesen vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Negt betont, dass Bebel nicht vorhatte, die Marx'schen Sätze direkt umzusetzen: "Theorie ist nicht dazu da, in die Praxis umgesetzt zu werden, sondern um der Praxis Orientierung zu geben".

Im Berliner Willy-Brandt-Haus erklärt Negt, er sei "der Sozialdemokratie verbunden bis zum heutigen Tag". Nachdem die Partei ihn aber sechs Jahre nach seinem Eintritt 1954 ausgeschlossen habe, trete er nicht mehr ein. Dennoch war er als Kanzlerberater für die SPD tätig. Auch wenn es ein "beschwerlicher Weg sei, den Bedarf nach Beratung zu erwecken", so Negt.

In seiner Dankesrede befruchtet er die aktuelle Fortschrittsdebatte der SPD und betont: "Die Fortschrittsidee ist begrenzt, wenn man sie von der sozialen Gerechtigkeit trennt". Für ihn sei Fortschritt ein Eingedenken, das Aufsammeln von liegen geblieben Problemen, so Negt. In der Tradition der Sozialdemokratie gebe es verborgene Botschaften, sagt Negt und ergänzt: "Menschen, die nicht erinnerungsfähig sind, sind auch nicht utopiefähig".

Der Preis der von Günter Grass gegründeten August-Bebel-Stiftung soll künftig alle zwei Jahre verliehen werden.

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Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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