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Dieser Mann wird einfach nicht müde. Er kämpft gegen die Atomenergie, immer weiter. Es ist Ende März, Michael Müller steht auf einer Bühne an der Straße des 17. Juni in Berlin, vor ihm 120 000 Menschen, die gegen die Nutzung von Kernenergie protestieren. Sie halten Schilder hoch, auf denen "Atomkraft ist ein Irrweg" oder "Strahlende Zukunft sieht anders aus" steht.

"Abschalten", ruft Müller der Menge zu, "und zwar sofort und für immer!" Seine Stimme überschlägt sich. Dass er dafür auf einer Anti-Atom-Demo Applaus erntet, ist kein Wunder. Dennoch ist der 62-Jährige glaubwürdiger als manch anderer, der sich in Zeiten von Atomkatastrophen auf eine Bühne stellt. Michael Müller tourt mit diesem Satz seit 40 Jahren durch die Republik. 120 000 Zuhörer hat er dabei selten gehabt.

Enttäuscht und fasziniert gleichzeitig

Im Gespräch bleibt seine Stimme ruhig, die Hände bewegt er beim Reden kaum. Der rheinische Akzent gibt Auskunft über seine Herkunft. Aufgewachsen in Düsseldorf, verlässt er noch vor dem Abitur die Schule, wegen "Knatsch mit den Lehrern", wie er sagt. Er beginnt eine Lehre als Stahlbetonbauer, holt aber parallel sein Abitur nach und studiert Betriebswirtschaftslehre. "Das war dann doch nichts für mich, als Stahlbetonbauer immer um 5 Uhr morgens aufzustehen."

Schon mit 17 Jahren tritt Müller in die SPD ein, und kurze Zeit später wegen der Diskussion um die Notstandsgesetzgebung wieder aus. Drei Monate später der erneute Eintritt. "Es war ähnlich wie heute: Man ist von der SPD immer enttäuscht und gleichzeitig fasziniert. Das zieht sich durch die ganze Geschichte der Partei." Müller muss es wissen: Von 1983 bis 2009 saß er für die SPD im Bundestag, war stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium.

"In der Atomfrage bin ich ein 68er", sagt er schmunzelnd. Im Jahr 1968 hat er seinen ersten Aufsatz gegen die Atomkraft geschrieben. Wie kommt der damals 20-Jährige auf das Thema? "Übern Kopp", lautet die kurze wie einleuchtende Antwort. Energiewachstum sei zu dieser Zeit gleichgesetzt worden mit Fortschritt. Er habe es hingegen für Wahnsinn gehalten, dass sich die Menschheit mit dem Energiewachstum umbringt.

Ein nicht so wichtiges Thema

Es sind die Themen der 60erJahre, die sein Interesse für Politik wecken: Die Schuld der Väter, der Ost-West-Konflikt. Aber eben auch die Umweltfrage. Die Natur aus der Gesellschaft auszugrenzen sei der zentrale Fehler von Philosophie und Politik in dieser Zeit, das historische Versäumnis der politischen Moderne, sagt Michael Müller.

Anfang der 1970er Jahre engagiert er sich in der aufkommenden Anti-Atom-Bewegung, zusammen mit Jo Leinen, heute Vorsitzender des Umweltausschusses im Europäischen Parlament, organisiert er die ersten Demos. Die Grünen gibt es noch nicht, die Bewegung geht vor allem von Sozialdemokraten aus. Allerdings ist die SPD als Partei noch weit von heutigen Positionen entfernt. Als Müller 1972 in den Juso-Bundesvorstand gewählt wird, empfiehlt der damalige Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth dem Neuling für die Arbeit im Vorstand "ein nicht so wichtiges Thema", die Umweltpolitik. "So war das halt damals", sagt Michael Müller heute schulterzuckend.

Selbst Erhard Eppler tritt in der Atomfrage noch für ein Moratorium ein, als Michael Müller Mitte der 70er Jahre in der Energiekommission des Parteivorstandes schon den Ausstieg fordert. Es ist eine Einzelmeinung, die in der Partei nicht ernst genommen wird. Für derartige Visionen ist in der SPD zu dieser Zeit kein Platz, sie widersprechen ihrem Fortschrittsverständnis. Die Folgen sind bekannt: 1980 gründen sich die Grünen und gewinnen mit dem Anti-Atom-Thema bis heute Wahlen. Müller ist sich sicher: "Die SPD hat in dieser Frage ihre historische Chance vertan, das ganze ökologische Thema an sich heran zu ziehen."

Der Ausstieg ist eine machtpolitische Frage

Hat er deshalb mal darüber nachgedacht, zu den Grünen zu wechseln? "Nein", antwortet er direkt. Seine Stimme wird etwas lauter: "Das ist ein Punkt, der mich wahnsinnig ärgert," sagt er. "Wer ist denn ein wirklicher ökologischer Vordenker bei den Grünen? Ich kenne keinen." In der SPD habe es hingegen in den letzten Jahren zahlreiche ökologisch orientierte Politiker gegeben: Hermann Scheer, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Monika Griefahn, Ulrike Mehl. Müller sagt das durchaus mit Stolz, vielleicht auch, weil er der ranghöchste dieser Gruppe gewesen ist. Gleichzeitig muss er eingestehen: "Leider haben wir nicht genug daraus gemacht." Man sei in der SPD lange nicht ernst genommen worden.

Jetzt ist Michael Müller Bundesvorsitzender der NaturFreunde. Die Ziele, für die er eintritt, sind dieselben geblieben. Die Chancen, sie zu verwirklichen, deutlich besser geworden. Dafür stehen auch die 120 000 Menschen auf der Anti-Atom-Demo in Berlin, die die NaturFreunde mitorganisiert haben. Für Michael Müller ist ein sofortiger Atomausstieg möglich und nötig: "Der Ausstieg aus der Atomenergie ist keine technische, er ist eine machtpolitische Frage. Und eine Frage, ob ich das heutige Energiesystem beibehalten oder umbauen will." Alles, was es derzeit noch an Widerständen gebe, sei kurzsichtig. Für ihn ist klar: "Deutschland hat eine einmalige Chance, zum weltweiten Vorreiter darin zu werden, dass ein Industrieland den Umbau schafft." Michael Müller wäre dann ein Vorreiter im Vorreiterland.

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