Muss ein Mittelschichtdasein automatisch mittelmäßig sein? Nein, lautet die Botschaft des neuen Films von Pablo Stoll Ward. Mit leisem Witz lässt der uruguayische Regisseur drei Großstädter erstaunliche Häutungen durchleben.
Zugleich geht es in „3/Tres“darum, wie eine Familie wieder zueinander findet, ohne zu versuchen, die Zeit zurückzudrehen. Wie schon in Stoll Wards mit internationalen Preisen gewürdigten Vorgängerwerk „Whisky“ geht es erneut um eine Dreiecksgeschichte. Nur dass es sich diesmal um Mutter, Vater und Tochter handelt. Der Schauplatz des Ganzen ist Urugays Hauptstadt Montevideo. Doch die Konzentration auf dieses Trio ist so hermetisch, deren Mittelschichtdasein so universell und die Einsprengsel aus der Welt jenseits der Wohnungstür derart sporadisch, dass der Film überall spielen könnte.
Rodolfo hat seinen Beruf als Zahnarzt längst satt. Um seine Patienten unverrichteter Dinge nach Hause schicken zu können, simuliert er Stromausfälle. Auch mit seiner Freundin läuft es alles andere als rund. Und das Schlimmste: Nicht einmal seine Fußballmannschaft will den moppeligen Mann in den Fünfzigern noch. Rodolfo weiß nicht wohin mit sich. Plötzlich fällt ihm ein: Da gibt es noch Ex-Frau und Tochter, die er vor zehn Jahren verlassen hat. Rodolfo packt seine Grünpflanzen und zieht in seine Praxis. Von dort aus geht er die Wiedereroberung seiner Familie an. Bis zum Schluss fragt man sich, ob er damit vor allem sich oder seinen Lieben einen Gefallen tun will. Es dürfte wohl eine Mischung aus beidem sein.
Papa vor der Tür
Doch Ex und Tochter sind zunächst wenig begeistert, als der fürsorgliche Papa nunmehr Abend für Abend mit Fast Food vor der Tür steht. Rodolfo hat damit kein Problem. Anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, verputzt er das Essen eben alleine und schläft anschließend vor dem Fernseher ein. Als wäre er dort noch zuhause. Die Frauen lassen sich davon kaum beeindrucken, sie haben ohnehin anderes im Kopf. Graciela arbeitet als Stenografin. Die Nächte verbringt sie zumeist an der Seite ihrer sterbenskranken alten Tante im Krankenhaus. Diese an emotionaler Wärme arme Routine zieht sie generalstabsmäßig durch, wenngleich ihre stolze Miene nicht verbergen kann, dass sie darunter leidet. Doch ausgerechnet dort, wo sie es niemals erwartet hätte, nämlich in jener Klinik, trifft sie eines Tages jemanden, der sie wieder rundherum aufblühen lässt.
Da bleiben nur wenige Momente der Zweisamkeit mit Tochter Ana. Gespräche finden kaum statt, stattdessen lümmeln die beiden Frauen im Pyjama vor der Glotze. Überhaupt zeichnet sich Anas Alltag durch eine demonstrative Trägheit aus. Schule und Handball öden den Teenager nur noch an. Sex, Alkohol und andere Vergnügungen sind schon verlockender. Also macht sich Ana auf, aus dem Schulmädchenleben auszubrechen. Anstatt Mathe zu büffeln, fährt sie mit dem Bus durch die ganze Stadt, um attraktiven Jünglingen nachzustellen. Schließlich beginnt sie eine Affäre mit einem der Maler, die Rodolfo ohne Vorankündigung in die Wohnung der Frauen geschickt hat, um im wahrsten Sinne des Wortes Farbe in deren Leben zu bringen.
Wer würde nicht vermuten, dass sich Mutter und Vater an dieser Stelle zusammenraufen, um die Tochter von der schiefen Bahn abzubringen? Doch es kommt anders. Graciela durchlebt ihren zweiten Frühling. Und Rodolfo wird zum heimlichen Verbündeten seiner nichtsnutzigen Tochter. Eine zweite Chance als Familie scheint möglich.
Gebrochene Klischees
„Drei“ bedeutet hier nicht ein Ganzes, sondern die Summe dreier Einzellteile, die einander umkreisen. Abzuwarten, wann und wie sie sich berühren, darin liegt die Spannung dieses Films. Somit geht es letztendlich auch darum, welche Bindungskraft Familien, nicht nur in der westlichen Mittelschicht, besitzen, wenn allerorten der Individualismus hochgehalten wird. Dass vor diesem Hintergrund ausgerechnet der ehedem abtrünnige Familienvater den integrativen Part übernimmt, widerspricht den auch heute noch gängigen Rollenklischees.
Es ist eine dieser Auffälligkeiten, von der Stoll Ward in einer Beiläufigkeit erzählt, als wäre es das Normalste der Welt. Vor allem jene Lakonie versöhnt einen mit der formalen Strenge dieser Mischung aus Drama und Komödie, die ihre Protagonisten zu keinem Zeitpunkt aus den Augen lässt. Selbst dann, wenn ausgesprochen wenig passiert. Das verlangt einige Ausdauer. Ob sie belohnt wird, ist wohl Geschmackssache. Viele Wendungen, gerade in Anas Leben, verpuffen, anstatt zu einem Aha-Erlebnis auserzählt zu werden. Andererseits ist dieser spröde, von leisem Witz geprägte Realismus auch wieder bemerkenswert.
Info: 3/Tres (Urugay/ Argentinien/ Deutschland/ Chile 2012), ein Film von Pablo Stoll Ward, mit Humberto de Vargas, Sara Bessio, Anaclara Ferreyra Palfy u.a., 119 Minuten, OmU
ab sofort im Kino