Eine Frau liebt eine Frau: Wenn ein im Grunde altbekanntes Thema erneut zum Filmstoff wird, erscheint die Gefahr des Scheiterns besonders groß. Beim Drama „Bei Blau ist eine warme Farbe“ ist die Gratwanderung geglückt.
Der französische Regisseur Abdellatif Kechiche („Couscous mit Fisch“) würde allerdings bestreiten, dass sein Drama über die Leidenschaft zwischen zwei Frauen einen vertrauten Aspekt aufgreift. Er habe, sagte er unlängst, zeigen wollen, dass homosexuelle Liebe nicht anders funktioniere als unter Heterosexuellen. Ein, gelinde gesagt, fragwürdiges Argument, weil es suggeriert, dass sich dieses Gefühl von der sexuellen Orientierung leiten ließe.
Nein, die Adaption der gleichnamigen Comic-Vorlage lebt weniger von dem Blick auf die „Charakteristika lesbischer Liebe“ als davon, die emotionale und körperliche Wucht der Liebe an sich in den Mittelpunkt zu stellen. Und welchen Scherbenhaufen das Ganze hinterlässt, wenn Illusionen sterben und Gefühle verletzt werden. Ein Stoff dem, so viel Pathos sei gestattet, angemessene ästhetische Konzepte gebühren, solange es Menschen gibt. Kechiche liefert dazu einen kunstvollen Bilderexzess, den man nicht so schnell wieder los wird. Mit einer Studie über Frankreichs Gay-Szene oder gar mit einem politischen Statement für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben hat diese Regiearbeit nichts gemein.
Die Geschichte an sich, die Kechiche über mehrere Jahre verfolgt, ist allerdings recht gewöhnlich. Während Adèle (Adèle Exarchopoulos) auf der Vernunftsseite keine Lücken hat, hinkt die Entwicklung ihrer Sinnlichkeit hinterher – wie bei vielen Pubertierenden. Die 15-Jährige lernt fleißig für die Schule. Mit ihren Freundinnen zieht sie durch Lille. Das Thema Nummer eins: Jungs. Doch der erste Sex mit einem Mitschüler ödet sie an. Wesentlich lustvoller wirkt sie, wenn sie am heimischen Esstisch bei vollem Mund noch die allerletzte Nudel mit Hackfleischsoße ebendort hineinstopft, dass die Backen vor Fett glänzen und sie nebenbei ihre wirren Strähnen sortiert – wie immer in diesem Film in Großaufnahmen, die keine Pore auslassen.
Ungewohnte Leidenschaft
Eines Tages wird alles anders. An einer Ampel läuft ihr eine Frau mit blauen Haaren, Arm in Arm mit ihrer Freundin, über den Weg. Emmas (Léa Seydoux) fragender Blick lässt Adèle erstarren. Jeder weiß: Die beiden sehen sich wieder. Was mit Spaziergängen im Park beginnt, endet schließlich in Emmas Bett. Mit der acht Jahre älteren, gleichsam kumpeligen und geheimnisvollen Kunststudentin erlebt Adèle zum ersten Mal die überwältigende Anziehungskraft eines anderen Körpers. Und nicht nur das: Überhaupt scheint sie nunmehr auch ihrer eigenen Leidenschaft erstmalig gewahr zu werden. Eine Weile lang lassen die jungen Frauen sich von ihrer sexuellen und emotionalen Neugier treiben. Doch auf den Rausch folgt ein nicht minder mächtiger Kater: Adèle wird klar, dass die beiden, allen ersten Annahmen zum Trotz, eben doch nicht für einander geschaffen sind. Zu groß sind die sozialen und kulturellen Unterschiede: Hier die einfachen Verhältnisse von Adèle, wo man gemeinsam schmatzend das Fernsehprogramm verfolgt. Und dort Emma, deren großbürgerliche Eltern Austern schlürfen und die bei ihrer Examensfeier mit ihren Kommilitonen über Kunstgeschichte parliert. Adèle ist derweil gut genug, Pasta zu servieren und Champagner nachzuschenken. An jenem Abend nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Am Ende schmeißt Emma Adèle nicht nur aus der Wohnung, sondern auch aus ihrem Leben. Dennoch geht Adèle gestärkt aus der Krise hervor.
Wie eine Prostituierte
Bei den Filmfestspielen in Cannes sorgte „Blau ist eine warme Farbe“ für einen Skandal. Hatte man jemals lesbischen Sex in dieser Intensität und Ausgiebigkeit auf der Leinwand gesehen? Erstmals ging die Goldene Palme nicht nur an den Regisseur, sondern auch an zwei Hauptdarstellerinnen. An der Jury-Entscheidung scheiden sich bis heute die Geister: Halten einige die freizügigen Sexszenen – oftmals verstören weniger die Bilder als die Geräusche – für einen neuen Maßstab in Sachen Realismus, sprechen andere von Dilettantismus. Wie dem auch sei: Dieser fast schon physisch erfahrbare,hypnotische Furor der Gefühle fasziniert. Vor allem dank der Kunstfertigkeit und – scheinbaren – Unbekümmertheit, mit der die jungen Schauspielerinnen zu Werke gehen. Deren herausragende Leistungen verleihen diesem Film seine eigentliche Qualität. Von der endlosen Schinderei am Set, die Seydoux in Interviews ansprach, ist wenig zu spüren: Wohl aber, dass Kechiche sie dazu gebracht hat, an ihre Grenzen zu gehen.
Jener Kraftakt hat aus dem Verschmelzen zweier Körper große, bleibende Kunst hervorgebracht: Was allerdings wenig mit der jeweiligen Stellung oder einem bestimmten Fleckchen Haut, sondern mit dem überwältigenden Sog zwischen den Frauen zusammenhängt: nicht nur, aber auch in jenen intimen Momenten. Mögen die Close-Ups auch derart irritieren, dass man sich als Zuschauer mitunter in der Rolle des Gaffers wähnt: Den Vorwurf des Voyeurismus kann dieses Drei-Stunden-Werk, das auch dem Publikum einiges abverlangt, ohne eine Einstellung zu lang zu sein, locker parieren.