Vor zwei Jahren nahm die Reaktorkatastrophe in Japan ihren Lauf. Noch immer sind bei weitem nicht alle Spuren beseitigt, sagt Greenpeace Atom-Experte Heinz Smital. Er war im Februar vor Ort. Im Interview mit vorwärts.de berichtet er über strahlende Erde in Müllsäcken und das aussichtslose Handeln der Regierung.
vorwärts.de: Die Reaktor-Katastrophe von Fukushima jährt sich an diesem Montag zum zweiten Mal. Wie bewerten Sie die Entwicklung in Japan während dieser Zeit?
Heinz Smital: Erstmals in seiner Atomgeschichte wurden in Japan wegen Fukushima laufende Atomreaktoren abgeschaltet. Von 50 Reaktoren laufen zurzeit nur zwei. Es hat auch sehr große Proteste der Bevölkerung gegeben, als Reaktoren wieder angefahren werden sollten. Japan zeigt damit ein wenig unfreiwillig, wie ein wichtiges Industrieland auch ohne Atomkraft am Laufen gehalten werden kann.
Trotzdem hat die konservative Regierung Anfang des Jahres beschlossen, den Atomausstieg des Vorgängerkabinetts rückgängig zu machen.
Die neue Regierung um Ministerpräsident Shinzo Abe war schon immer sehr atomfreundlich eingestellt und hat das auch offen im Wahlkampf gesagt. Sie hat nun angekündigt, Reaktoren wieder hochzufahren und unter Umständen sogar neue zu bauen. Ich bin mir sicher, dass es ein gesellschaftliches Ringen über den Sinn der Atomkraft in Japan geben wird. Es gibt ja bereits Berechnungen, wie man in Japan vollständig auf Atomenergie verzichten und trotzdem die Klimaschutzziele erreichen könnte.
Hat die Regierung das Bewusstsein dafür?
Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die japanische Regierung auf den Atomkurs zurückkehren möchte. Die Konservativen haben immer auf die Atomkraft gesetzt, sie ausgebaut und Atomtechnologie über japanische Unternehmen exportiert. Diesen Kurs halte ich für gefährlich. Allerdings lehnt die japanische Bevölkerung die Atomkraft weiterhin deutlich ab. Fukushima hat da auch im Bewusstsein der Menschen etwas verändert. Und gelegentliche Erdbeben, die in Japan gang und gäbe sind, halten die Erinnerung an die Katastrophe wach. Fukushima sitzt wie ein Stachel in der japanischen Gesellschaft. Die Atomkraft wird deshalb auch in Japan keine sehr rosige Zukunft haben.
Sie sind gerade aus Fukushima zurückgekehrt. Wie waren Ihre Eindrücke vor Ort?
Wir waren in der Stadt Fukushima mit rund 300 000 Einwohnern. Im Großen und Ganzen sieht dort alles ganz normal aus. Wenn man aber genau hinschaut, sieht man die großen Veränderungen. Ein Kindergarten zum Beispiel ist aus einer hoch verstrahlten Region in einen anderen Stadtteil umgezogen. Wo der Kindergarten geschlossen wurde, gibt es nun kaum noch Kinder. Wenn man in der Stadt mit einem Strahlenmessgerät herumläuft, kommen die Menschen sehr interessiert auf einen zu. Sie kennen meistens die Stellen, die stark belastet sind, und versuchen, diese zu meiden.
Gibt es in Fukushima Sperrzonen?
In der Stadt selbst gibt es keine Sperrgebiete. Aber immer wieder werden Dekontaminierungsmaßnahmen vorgenommen, bei denen belastetes Erdreich abgetragen wird. Wir haben allerdings etwa auf einem Spielplatz, der als gesäubert galt, Strahlung von acht Mikrosievert pro Stunde festgestellt. Das ist ein ungemein hoher Wert. Oft wäscht der Regen neue Radioaktivität an die Stellen, die bereits dekontaminiert wurden.
Das Bewusstsein für die Strahlung ist also da, doch die Aktivitäten helfen nicht wirklich weiter?
Auf mich wirkt das Vorgehen der Regierung nicht sehr stringent. Wir sind aus der Stadt Fukushima auch ins Landesinnere gefahren in eine Region, die etwa 40 Kilometer vom havarierten Reaktor entfernt ist und nicht bewohnt werden darf. Im Moment betreibt die Regierung große Anstrengungen, dieses Gebiet von Radioaktivität zu säubern. Unsere Messungen haben allerdings gezeigt, dass die Bemühungen nur zum Teil Früchte tragen. Die Radioaktivität kann um vielleicht 20 Prozent bis maximal die Hälfte reduziert werden. Diese Werte sind aber immer noch viel zu hoch als dass die Menschen einfach dorthin zurückkehren könnten. Weitaus sinnvoller wäre es deshalb, in den weniger verstrahlten Gebieten die Hot Spots zu entfernen, als ganze Landstriche zu reinigen. Das ist ohnehin aussichtslos.
Was passiert mit dem abgetragenen Erdreich?
Es wird in riesige Säcke verpackt, die links und rechts neben der Straße stehen. Irgendwann werden sie eingesammelt und in riesige Deponien gebracht, in denen sie oft unter freiem Himmel lagern. Die Säcke sind vielleicht für drei Jahre haltbar. Was danach mit dem radioaktiven Müll geschieht, weiß heute noch niemand. Dekontaminieren heißt also nicht, dass die Strahlung verschwindet, sondern nur, dass sie abgekratzt, in Säcke verpackt und an zentraler Stelle gelagert wird. Nicht zuletzt daran sieht man, wie unbeherrschbar solch eine Atomkatastrophe ist.
Die Weltgesundheitsuntersuchung hat kürzlich Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt, die besagen, dass das Krebsrisiko in der Region Fukushima nicht wesentlich höher ist als anderswo. Teilen Sie diese Einschätzung?
Die Auswirkungen von Strahlung zeigen sich oft erst Jahre später. Man spürt die Strahlung meistens nicht in dem Moment, in dem man ihr ausgesetzt ist. Die Strahlendosis ist selten so hoch, dass es zu unmittelbaren Strahlenschäden kommt. Die Weltgesundheitsorganisation berücksichtigt das nicht und verharmlost die Ergebnisse. Bereits zu Anfang der Reaktorkatastrophe wurden sehr große Mengen an Radioaktivität freigesetzt – als die 20-Kilometer-Zone rund um den Reaktor noch gar nicht evakuiert war. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Bewohner in dieser Zeit große Mengen an Radioaktivität inhaliert haben. Dieser Aspekt wird viel zu wenig betrachtet. Insgesamt sind große Flächen mit Strahlung belastet. Natürlich erhöht dies das Risiko für Krebs und anderer Krankheiten. Die Weltgesundheitsorganisation hat bisher versäumt, hier Zahlen abzuschätzen.
Wie geht es mit dem havarierten Kraftwerk weiter? Braucht es auch einen Sarkophag wie der Reaktor in Tschernobyl?
In Fukushima sind vier Reaktoren explodiert. Der Zustand ist ähnlich schwierig wie 1986 in Tschernobyl. Zurzeit werden einfache Abdeckungen aus Folie und Metallgerüsten gebaut, die direkte Wettereinflüsse verhindern sollen. Für Gebiete, in denen die Strahlenbelastung zu hoch ist, wird versucht, Roboter zu entwickeln. Sie sollen Trümmer aus dem Weg räumen. Die Kontrolle der Ruinen wird noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Die strahlende Ruine wird also weiter mahnen, aus der Atomkraft auszusteigen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Deutschland den eingeschlagenen Weg der Energiewende fortsetzt.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.