Wenn das Bild auch abgegriffen ist: Dieses Buch ergreift und packt die Leser. Als Frucht einer über dreißigjährigen Beschäftigung mit dem Thema schreibt der Historiker Götz Aly „Die Belasteten“, ein Buch über die NS-Euthanasie. Ähnlich der industriellen Vernichtung der Juden ging sie „in der Mitte der deutschen Gesellschaft als öffentlich bekanntes Geheimnis“ vonstatten, wie es im Klappentext zutreffend heißt.
Etwa 200.000 Menschen fielen als so genannte Erbkranke der verbrecherischen Tötung durch die Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten zum Opfer. Ein Massenmord, der nach 1945 totgeschwiegen wurde. Und doch: „Langsam tauchen jene Vergessenen wieder auf, die sterben mussten, weil sie als verrückt, lästig oder peinlich empfunden wurden, weil sie unnormal, gemeingefährlich, arbeitsunfähig oder dauernd pflegebedürftig waren“, schreibt Aly. Er hat das Buch seiner behinderten Tochter Karline gewidmet hat.
Die Scham der Hinterbliebenen
Als „Geheime Reichssache Euthanasie“ beginnt das Tötungsprogramm der Nationalsozialisten 1939. Deckname dafür ist „Aktion T4“, benannt nach einem Haus in der Berliner Tiergartenstraße 4, der Planungszentrale der Morde. Die Nazis erfassen die in Frage kommenden Anstalten, klassifizieren die Insassen und verfolgen anschließend die systematische Vernichtung der behinderten Menschen. Aly vertritt in seinem Buch die These, dass die „Aktion T4“, die der Vernichtung der Juden voraus ging, eine Art Test dafür war, wie weit der nationalsozialistische Staat gehen konnte.
Nicht wenige Angehörige – sie meint Aly mit dem Titel „Die Belasteten“ – schämten sich ihrer Kinder oder Verwandten. Sie suchten selbst nach Rechtfertigungen für die „Tötung lebensunwerten Lebens“, wie die Nationalsozialisten es nannten. Der Historiker schreibt von der „‚Lebenslast’ der Angehörigen und das damit verschwisterte Bedürfnis nach ‚Entlastung’, nach individueller und kollektiver ‚Befreiung von einer Last’“. Dieser Wunsch nach Befreiung habe sie oft daran gehindert, Aufklärung zu fordern, damit diejenigen, die für die Morde verantwortlich waren, zur Rechenschaft gezogen werden konnten.
„Der Liebling der Station“
„Letzte kindliche Lebenszeichen“ hat Aly ein Kapitel überschrieben, in dem er Zeugnisse über ermordete Kinder gesammelt hat. In der Anstalt in Ansbach notierten Krankenschwestern die Befindlichkeiten der später Ermordeten. Den knapp acht Jahre alten Ernst Brand halten sie für „froh“. Über den knapp 24 Monate jungen Gerhard Meyer steht in den Aufzeichnungen: „aufgeschlossen und freundlich, Freude und Interesse an Spielsachen, wegen clownhaften Wesens und Anhänglichkeit Liebling der Station“. Über sie und alle anderen schrieb die Stationsärztin das Todesurteil: „Es ist nicht damit zu rechnen, dass er (oder sie) ein brauchbarer Volksgenosse werden wird.“
Am 23. August 1941 wurden die Morde auf Befehl Hitlers von jetzt auf gleich ausgesetzt. Die Kriegslage war komplexer als erhofft, die Sicherheitsbehörden wiesen darauf hin, dass das überlange „Warten auf Sondermeldungen von neuen größeren Erfolgen an der Ostfront“ ein „Absinken der erwartungsvollen Stimmung“ zur Folge habe. Die Nazis ließen Druck aus dem Kessel, zumal die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, die Euthanasie öffentlich machten.
Die DFG verweigerte das Stipendium
Götz Alys aktuelles Buch zur NS-Euthanasie hätte übrigens schon erheblich früher erscheinen können. Wenn denn die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dem vor nunmehr 30 Jahren gestellten Antrag Alys auf ein Habilitationsstipendium entsprochen hätte.
Götz Aly: „Die Belasteten. ‚Euthanasie’ 1939-1945 – Eine Gesellschaftsgeschichte“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, 348 Seiten, 22,99 Euro. ISBN 978-3-10-000429-1
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.