vorwärts.de: Herr Perez, haben Sie Verständnis für die Proteste gegen Stuttgart 21?
Marc Perez: Nur bedingt. Mein Tagesgeschäft ist es, in Frankreich zu erklären, dass Städtebau und Verkehrspolitik zusammengehören, dass es ökologisch vernünftig ist, einen
Verkehrsknoten zu verdichten. Genau das leistet Stuttgart 21. Deswegen verstehe ich auch die Grünen nicht. Aber nicht nur das stört mich an den Protesten.
Sondern?
Perez: Man sagt: Stuttgart 21 wurde hinter verschlossenen Türen undemokratisch entwickelt und entschieden. Aber das stimmt nicht. Ich lebe jetzt seit 15 Jahren in Karlsruhe und
seit 15 Jahren verfolge ich die Fortschritte des Projektes. Ich fühlte mich immer gut informiert. Das liegt sicher an meinem Beruf, aber jeder Stuttgarter Bürger hätte dies auch frühzeitig machen
können, wenn er es nur gewollt hätte.
Irmgard Tauss: Denen dürfte es wie mir gegangen sein. Auch meine Haltung hat sich erst in den letzten Jahren entwickelt. Ich bin davor davon ausgegangen, dass Stuttgart 21 nicht
kommt.
Perez: Das kann ich nachvollziehen, den Eindruck konnte man bekommen.
Tauss: Und erst als ich gemerkt habe, sie ziehen es durch, habe ich mich damit befasst. Das ging vielen so - was erklärt, warum der Protest erst so spät begann.
Frau Tauss, Sie werden am Sonntag gegen das Projekt stimmen. Wieso?
Tauss: Weil sehr viel Geld für etwas ausgegeben werden soll, das man jetzt schon hat. Wenn man schnellere Fernverbindungen will, bekommt man die auch ohne Stuttgart 21.
Herr Perez, Sie stimmen für Stuttgart 21?
Perez: Erstens finde ich das Projekt städtebaulich sehr stark, weil die Teilung des Stuttgarter Kessels aufgehoben wird. Zweitens werden Messe und Flughafen schneller angebunden,
was wiederum die Wirtschaftlichkeit der Strecke Stuttgart-Ulm erhöht. Drittens: Selbst wenn die Grünen Recht hätten und es ein besseres Projekt gäbe - mir ist der Spatz in der Hand lieber als die
Taube auf dem Dach.
Wie meinen Sie das?
Perez: Irgendwann muss man bauen. Bei allen Verkehrsprojekten vergeht aber zwischen Planung und Realisierung immer mehr Zeit. Wenn man Stuttgart 21 jetzt stoppt, verspätet sich
auch die Neubaustrecke nach Ulm. Im besten Fall hat man dann ein besseres Projekt, aber 15 Jahre später.
Tauss: Stuttgart 21 ist nicht nur nicht optimal, sondern schlecht. Ich habe mir während der Schlichtung extra Urlaub genommen und habe jede Sitzung live verfolgt. Für mich kam
dabei unter anderem heraus, dass Stuttgart 21 unflexibel ist. Der Tiefbahnhof kann nicht mehr ausgebaut werden, dann ist man an diese Kapazitäten gebunden.
Was wäre so schlimm daran?
Tauss: Schon jetzt sind morgens alle Züge von Karlsruhe nach Stuttgart knallvoll. Das wird aus den anderen Richtungen nicht anders sein. Und wegen der begrenzten Kapazitäten von
Stuttgart 21 sollen dann Züge gestrichen werden. Das versteht doch kein Mensch.
Perez: Das Projekt hat eine begrenzte Kapazität, okay. Aber wenn man nichts macht, ist man noch in 20 Jahren nicht weiter als heute. In Frankreich gibt es längst schnelle, lange
Fernverbindungen - nur so kann man den umweltschädlichen Inlandflügen Konkurrenz machen.
Warum soll das in Deutschland nicht gehen?
Perez: Das ist leider so in Deutschland. Der Ausbau der Fernstrecke Frankfurt-Mannheim stockt. Die Verbindung zwischen Hamburg und Hannover stockt. Die Rheintalstrecke stockt.
Gegner von Stuttgart 21 fordern alternativ den Ausbau der Rheintalstrecke über Karlsruhe und Freiburg. Die sei ökologisch viel wichtiger, um dem Güterverkehr Richtung Schweiz und Italien
auf die Schiene zu bekommen.
Tauss: Absolut. Aber wegen Stuttgart 21 liegt das Projekt auf Eis.
Perez: Nicht hundertprozentig auf Eis: Teile sind schon im Bau. Und der Abschnitt zwischen Offenburg und Freiburg stockt eher, weil die Anwohner für mehr Umfahrungen und Tunnels
kämpfen. Also wird das Projekt jedes Jahr teurer. Ich sehe keinen Automatismus, dass es dort schneller geht, wenn Stuttgart 21 platzt.
Für Menschen außerhalb von Baden-Württemberg ist schwer zu verstehen, warum die Diskussion um einen Bahnhof mit so viel Vehemenz geführt wird. Wie kann man jemandem in Magdeburg oder
Hamburg erklären, was hier passiert?
Tauss: Die Proteste sind Teil einer Entwicklung wie wir sie auch in Tunesien oder Ägypten beobachten können. Sie werfen die Frage auf, wie Politik künftig stattfinden soll.
Offenbar reicht die parlamentarische Demokratie nicht aus. Das leuchtet sicher auch in Hamburg ein.
Perez: Ich finde das alles schon komisch, weil es so vieles gibt, bei dem man sich Bürgerprotest wünscht. Ich sehe bei den Demos auch nicht nur heroisches
Partizipationsbestreben.
Tauss: Die Bürger stellen fest, dass sie von der Politik falsch informiert wurden, dass Mappus sie als Berufsdemonstranten denunziert hat. Die wollen ernst genommen werden.
Perez: Ich bin ja auch froh, dass Mappus weg ist. Trotzdem ist mir die Grundhaltung zu gemütlich. Die Proteste werden zum Teil von einer übersättigten Stuttgarter Gesellschaft
getragen - von gut situierten Rentnern, die gegen ein Projekt sind, das ihnen erstmal Ärger bringt aber künftigen Generationen zu Gute kommt.
Tauss: Das ist Unsinn.
Perez: Mir kommt das vor wie eine Massenhypnose, die Argumentation ist oft nicht rational. Eine Hälfte der Gegner kämpft für ein besseres Bahn-Projekt: ein ehrenwertes Motiv. Die
andere Hälfte ist gegen alles, auch wenn mit K 21 der modernisierte Kopfbahnhof käme, würde die demonstrieren. Man muss wissen: ob S21 oder K21, Neubaustrecken sind im dicht besiedelten
Deutschland immer teurer als man denkt.
Tauss: Bei der Schlichtung ist doch klar herausgekommen, dass dieser Bahnhof nicht leistungsfähiger ist. Und außerdem wird er viel teurer werden als geplant. Wir sind doch in der
Vergangenheit von der CDU hinter die Fichte geführt worden. Oettinger wollte der SPD nicht die echten Zahlen nennen, damit bei uns bloß nicht diskutiert wird.
Wie bewerten Sie denn die aktuelle Haltung der SPD?
Tauss: Die SPD hat den taktischen Fehler gemacht, zu spät die Diskussion zu führen. Zuerst hieß es, das sei eine reine Stuttgarter Diskussion und die Stuttgarter Genossen haben
sich recht früh auf ein Ja festgelegt. Ich fand den Offenburger Parteitag wirklich erschreckend. Es wurde nicht diskutiert. Ich glaube, es wollte auch keiner diskutieren. Die Partei befindet sich
in einer Schockstarre.
Perez: Als leidenschaftlicher Befürworter von Stuttgart 21 war ich enttäuscht, dass die SPD nicht klarer dafür war. Im Nachhinein muss ich sagen, dass die offizielle Parteilinie
alternativlos war. Bei einem klaren Ja hätte man die Große Koalition machen müssen.
Wie sieht Ihre Prognose für Sonntag aus?
Tauss: Es wird knapp werden. Viele werden sich ganz kurzfristig entscheiden. Ich bin aber optimistisch, dass man das Milliardengrab noch verhindern kann.
Perez: Die SPD wird ihren Schachzug gegen die Grünen gewinnen. Die Grünen werden den Bahnhof bauen müssen. Dann kann sich die Regierung endlich auf Wichtigeres konzentrieren.
Moderation: Christoph Ruf
Christoph Ruf
ist frei(williger) Journalist und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch "
Was ist links?" erschienen. Christoph Ruf lebt in Karlsruhe.
44, ist freier Journalist und Buchautor aus Karlsruhe, schreibt für Spiegel Online und diverse Zeitungen (SZ, taz, FR, etc.) über Rechtsextremismus und Fankultur. Zuletzt erschien von ihm „Kurvenrebellen – die Ultras. Einblicke in eine widersprüchliche Szene.“ (Werkstatt-Verlag) und „Was ist links? Reportagen aus einem politischen Milieu.“ (Beck`sche Reihe)