Wir dürfen die Menschen in Afghanistan nicht allein lassen
IMAGO/Xinhua
„Geleitet werden wir vom Ansatz der 3R: Rechte verwirklichen, Zugang zu Ressourcen und Repräsentanz herstellen“. Dieser Dreiklang steht im Papier der Kommission Internationale Politik (KIP) der SPD unter dem Abschnitt zur Entwicklungspolitik. Nimmt man noch die Unterstützung des Staatsaufbaus und die Stabilisierung der Sicherheitslage hinzu, hat man auch die deutschen Leitlinien für das Engagement in Afghanistan recht gut zusammengefasst. In der Tat, wer Strategiepapiere der Bundesregierung aus den späten Jahren des Afghanistan-Einsatzes liest, wird viel von dem wiederfinden, was auch die KIP zur Entwicklungspolitik geschrieben hat. Und es sind zweifelsohne gute Ziele. Doch warum können wir dann heute nicht auf ein Afghanistan blicken, in dem Rechte verwirklicht sind und der Zugang zu Ressourcen sowie Repräsentanz sichergestellt sind?
Nur begrenztes Interesse an einer Demokratisierung
Wer die Ursprünge vieler Fehler sucht, die zwischen 2001 und 2021 gemacht wurden, blickt am besten erst mal auf die ersten Wochen und Monate des Engagements (und zu gegebener Zeit in den Bericht der Enquete-Kommission Afghanistan). Einflussreiche Mitglieder der Nordallianz, die an der Seite der NATO 2001 die Taliban besiegt hatten, wurden im Bonner Prozess zur neuen politischen Elite auserkoren. Im Aufbau der afghanischen Republik wollte man an bestehende Machtstrukturen anknüpfen. Diese neuen Eliten waren jedoch, gestützt durch die internationale Gemeinschaft, in eine Machtposition gelangt, von der aus sie nur insoweit Interesse an einer Demokratisierung des Landes oder einer liberalen afghanischen Gesellschaft hatten, wie es ihren Einfluss nicht gefährdete.
Ebenso arbeiteten Länder der internationalen Gemeinschaft mit lokalen Warlords zusammen, die teilweise wie Mafiabosse über Regionen des Landes herrschten und ihre Macht auf einem Sicherheitsversprechen begründeten, das sie, wie sich später herausstellte, nie in der Lage waren einzulösen. Die fortschrittlichste Verfassung, die das Land je besaß, existierte vielerorts nur auf dem Papier. Im Trugschluss, die Afghan*innen ans Steuer ihres Schicksals zu setzen, stärkten wir eine Machtelite, die ihre persönlichen Interessen verfolgte.
Nicht die afghanischen Bedürfnissen standen im Mittelpunkt
Aber auch westliches Engagement erfolgte teils anhand von Zielen, die eher für ein heimisches Publikum geschrieben worden waren. Stattdessen hätten von der ersten Minute an die Bedürfnisse der afghanischen Bevölkerung im Mittelpunkt des westlichen und somit auch des deutschen Engagements stehen müssen. Nur so hätte sich der nötige Rückhalt für unser eigenes Engagement, aber auch die junge Republik generieren lassen. Warum geschah dies nicht und woher der anfängliche Trugschluss? Kurz: Um die Bedürfnisse der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen, hätten wir sie kennen müssen. Und wir hatten Land und Leute schlichtweg nicht verstanden.
Nicht, dass dies einfach gewesen wäre. Die afghanische Gesellschaft ist stark von informellen, dörflichen Strukturen geprägt. Es gab keine zentralisierte und organisierte Zivilgesellschaft, die einen allgemeinen Volkswillen hätte artikulieren können. Nach Jahrzenten des Krieges war von der Zivilgesellschaft nicht mehr allzu viel übrig und das, was sich gehalten hatte, wurde durch die westliche Definition einer Zivilgesellschaft nicht erfasst. Gerade deshalb hätte es zu Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit dem lokalen Kontext bedurft. Zu einem späteren Zeitpunkt, als man vor Ort mit den Menschen gearbeitet hatte, wurde das Kontextverständnis zunehmend besser. Doch da war das marode Fundament für das Haus aus guten Zielen schon gelegt. Ein Fundament aus Fehleinschätzungen.
Wir dürfen Afghanistan nicht aufgeben
Zusätzlich zu den 3R als Leitlinien könnte das vierte „R“ wie folgt lauten: Respekt vor dem lokalen Kontext beweisen. Sowohl in dem, wie wir unsere Ziele vor Ort definieren wollen als auch darin, wie wir sie nachhaltig umsetzen wollen, mus eine gute Kenntnis des lokalen Kontextes leitendes Prinzip unserer Arbeit sein. Deshalb ist eine zentrale Frage für uns, wie wir am besten von Beginn an die fachliche Expertise und die Menschen vor Ort miteinbeziehen können und wie wir sie als begleitendes Element unseres Engagements beibehalten.
Doch die Geschichte Afghanistans hört nicht mit dem Abzug der internationalen Gemeinschaft auf. So finster die Situation heute aussehen mag, es protestieren in Afghanistan noch Frauen für ihre Rechte, es leisten noch Gruppen bewaffneten Widerstand gegen die Taliban, und die Hoffnung in der afghanischen Diaspora ist noch nicht erloschen. Auch wir dürfen Afghanistan nicht aufgeben. Lediglich die Taliban zu verurteilen reicht nicht aus. Wir müssen uns jetzt fragen, was wir tun können, um die Menschen in Afghanistan nicht alleine zu lassen. Angesichts der anhaltenden humanitären Katastrophe in Afghanistan heißt es: Und zwar schnell!
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ist Mitarbeiter Büro von Derya Türk-Nachbaur, MdB, Obfrau der SPD in der Enquete-Kommission Afghanistan.