Meinung

Was die SPD für ihre Erneuerung von Ostdeutschland lernen kann

Die Menschen in Ostdeutschland wissen, was Umbrüche bedeuten – und worauf man bei jeder Erneuerung achten sollte, um echten Zusammenhalt zu schaffen. Die SPD sollte diese Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger nutzen, findet Martin Dulig.
von Martin Dulig · 13. Dezember 2018
Kunstprojekt zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin: als ganzes Land von der Erfahrung der Menschen im Osten lernen
Kunstprojekt zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin: als ganzes Land von der Erfahrung der Menschen im Osten lernen

Wofür steht die SPD? Oder auch: Was ist Sozialdemokratie? Viele Menschen stellen sich diese Fragen. „Erneuerung“ ist nicht erst seit der Bundestagswahl 2017 ein Schlagwort, das die Diskussion bestimmt. Die SPD soll sich erneuern, heißt es. Das geht auch nicht anders – Erneuerung liegt in unserer DNA.

Sozialdemokratie ist die politische Kraft, die den Ausgleich zwischen vielen Menschen zum Wohl aller will. Wie stark diese Kraft ist, darüber entscheiden die Menschen selbst – mit ihrem Kreuz bei jeder Wahl. Für uns als Genossinnen und Genossen macht das keinen Unterschied: Das Streben nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit ist unser Antrieb – und er erschafft stetig Neues. Das hat uns Sozialdemokraten schon immer von den Konservativen unterschieden. Das unterscheidet uns von allen, die nur links und rechts am Wegesrand schimpfen – und damit exakt nichts verändern.

Erneuerung ist Kern der ­sozialdemokratischen Idee

Erneuerung bedeutet heute auch, dass wir diesen Kern – wieder – sichtbar machen müssen. Was ich mir dabei wünsche: dass wir als ganzes Land von der Erfahrung der Menschen im Osten lernen ­– und so nicht nur Erneuerung, sondern echten Zusammenhalt schaffen.

Wir wissen im Osten, was Umbruch, was eine Erneuerung von jetzt auf gleich bedeutet – und was dabei schiefgehen kann. Deshalb ist der „Ostblick“ so wertvoll.  Bislang bestimmt jedoch der „Westblick“ die politischen Entscheidungen. Nur bei Problemen richtet sich der Scheinwerfer kurz und grell auf den Osten. Was dabei untergeht: Wir haben viel einzubringen. Lebenserfahrung, Anstand und das Verlangen nach einer friedlichen, freundlichen, echten Gemeinschaft.

Der Respekt vor Lebensleistung fehlt

Wir haben viel erreicht. Viele Regionen haben sich prächtig entwickelt. Es gibt immer weniger Arbeitslose, vielerorts herrscht sogar akuter Fachkräftebedarf. Wirtschaftlich steht Ostdeutschland auf stabilem Grund. Doch: Die Stimmung ist mancherorts schlecht. Es gibt erhebliche Zukunftsangst. Etliche Ostdeutsche vermissen den Respekt vor ihrer Lebensleistung. Viele Menschen haben wenig vom Wohlstand abbekommen.

Welche Erneuerungen brauchen wir hier? Die Digitalisierung, die Landflucht und der Mietwucher in den Städten verlangen alle nach sozialen Lösungen. Für die Gefährdung unserer Demokratie gilt das sowieso.

Zeit für mehr Leistungsgerechtigkeit

Es wird Zeit, die Leistungsgerechtigkeit neu zu denken. Sie ist vor allem im Osten aus den Fugen geraten. Ostdeutsche Arbeitnehmer fühlen sich unsicher, weil sie an „verlängerten Werkbänken“ westdeutscher Firmen arbeiten, und die werden im Krisenfall schnell geschlossen. Die meisten Facharbeiter im Osten arbeiten mehr Stunden pro Woche – aber zu geringeren Löhnen – als im Westen. Trotz guter Ausbildung und obwohl sie dauerhaft in die Rentenversicherung einzahlen, arbeiten überdurchschnittlich viele Menschen im Osten für einen Niedriglohn – und können deshalb in der Altersarmut landen.

Wir brauchen eine echte existenz­sichernde Grundrente und höhere Löhne. Wir brauchen flächendeckende Tarifverträge, und zwar zuerst in der Kranken- und Altenpflege. Und: Wir wollen den Schutz älterer Arbeitnehmer verbessern – damit sie nach langjähriger Berufstätigkeit nicht in Hartz IV rutschen.

Auch eine neue Familienpolitik kann Richtung Osten schauen. Die Frauen­erwerbsquote ist bei uns höher, der Lohnnachteil geringer, die Kita-Betreuung flächendeckender. Im Osten wachsen deutlich mehr minderjährige Kinder bei Alleinerziehenden auf – die staatlichen Familienleistungen in Deutschland orientieren sich aber weiterhin stark am alten, westdeutschen Modell des männlichen Alleinernährers. Das Ehegattensplitting ist fast vollständig eine Westsubvention. Wenn wir allen Kindern wirklich helfen wollen, brauchen wir eine Kindergrundsicherung als elternunabhängigen Grundbetrag.

Nur Mut, Genossinnen und Genossen

Erneuerung braucht Erfahrung – nur so kann sie etwas besser machen. Erfahrung haben wir Sozialdemokraten reichlich. Was uns noch fehlt, ist der Mut, nach vorne zu blicken – und andere Menschen von der sozialdemokratischen Idee der Erneuerung zu begeistern. Nicht der Zweifel hat die ­Sozialdemokratie großgemacht, sondern der Mut. Nur Mut, Genossinnen und Genossen.

Autor*in
Martin Dulig
Martin Dulig

ist stellvertretender Ministerpräsident von Sachsen und Ostbeauftragter der SPD.

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