Warum wir eine soziale Marktwirtschaft 2.0 brauchen
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Nach den schrecklichen Verbrechen während des zweiten Weltkriegs erhielten wir in Deutschland die Chance auf einen Wiederaufbau des Landes und der Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft feiert nun ihren 75. Geburtstag – was für eine Erfolgsgeschichte!
Die zugrundeliegende Idee war, dass über materiellen Wohlstand der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt und so radikalen und menschenverachtenden Parteien der Nährboden entzogen wird. Unter kräftiger Mithilfe der Alliierten in der Gestaltung der Währungsreform und Wirtschaftsordnung wurde daraus ein Erfolgsmodell.
Ein Aufschwung, der bis heute unerreicht ist
Eingebettet und ermöglicht wurde das Nachkriegsmodell durch die internationale Kooperation im Rahmen von Bretton Woods, in welcher der US-Dollar an Gold und sämtliche Wechselkurse in einem fixen, jedoch anpassbaren Verhältnis an den US-Dollar gebunden wurde. Die Geldpolitik der US-Zentralbank war expansiv – und zur Verteidigung der Wechselkurse musste der Rest der Welt diese Geldpolitik mitgehen. Diese globalen, stabilen Wachstumsvoraussetzungen setzten weltweit einen Aufschwung in Gang, der bis heute unerreicht ist.
In Deutschland führte die starke Sozialpartnerschaft dazu, dass die Produktivitätsgewinne durch die Investitionen eine breite Teilhabe der Gesellschaft ermöglichten. Die Reallöhne stiegen, die Kaufkraft nahm zu, dies wiederum stimulierte die Nachfrage, was weitere Investitionen anregte. Das war der Funktionsmechanismus der sozialen Marktwirtschaft.
Die Grundformel für das „Modell Deutschland“
Die soziale Marktwirtschaft hat ein Versprechen gegeben, das lautete: „Streng dich an, dann kannst Du stetig wachsenden Wohlstand für Dich und Deine Familie erreichen!“ Die wirtschaftlichen Bedingungen und die breite Teilhabe der Gesellschaft am technologischen Fortschritt sorgten dafür, dass dieses Versprechen auch erfüllt wurde.
Nachfolgenden Generationen ging es immer besser als den vorhergehenden. Dem Wohlstandswachstum schienen keine Grenzen gesetzt, die soziale Marktwirtschaft funktionierte. Das ist die Grundformel für das „Modell Deutschland“ geworden. Die Idee der Leistungsgerechtigkeit verbunden mit Wohlstand und sozialer Sicherheit prägt politisches Denken und Fühlen in Deutschland bis heute. So haben wir es auch als Zielvorstellung in unseren Verbandsgrundsätzen des Wirtschaftsforums der SPD verankert.
Die Gerechtigkeitsfrage wird zur Frage der Stabilität
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war ein gigantisches Unterfangen. Das sind die Herausforderungen unserer Zeit aber ebenfalls, allen voran eine gelingende Transformation der Wirtschaft und Industrie hin zur Dekarbonisierung. Die Grundprinzipien des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft sind auch mit Blick darauf so relevant wie eh und je. Dies gilt gerade und vielleicht sogar umso mehr, da für viele Menschen die Prämissen der goldenen Jahre der sozialen Marktwirtschaft nicht mehr funktionieren.
Bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein profitieren die Menschen nicht mehr vom gesamtwirtschaftlichen Fortschritt. Zudem kamen seit 2020 drei Jahre in Folge hinzu, in denen die breite Masse der Gesellschaft Reallohnverluste zu beklagen hatte. Die Gerechtigkeitsfrage wird damit – wie in der sozialen Marktwirtschaft – zur Frage der Stabilität und des Wohlstands der Zukunft.
Der Staat muss Ermöglicher sein
Teilhabe und Sicherheit in Zeiten des radikalen Wandels werden nur über eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen erfolgreich bewältigt werden können – wie in den besten Zeiten der sozialen Marktwirtschaft. Letztere bedeutet nämlich in erster Linie Vollbeschäftigung, hohes Produktivitätswachstum und hohe Reallohnsteigerungen. In einem solchen Umfeld findet Transformation gesellschaftliche Akzeptanz, denn die Menschen merken: Es geht uns heute besser als gestern – und unseren Kindern und Enkelkindern wird es noch besser gehen als uns.
Neben den Instrumenten der Lohn-, Arbeitsmarkt- und Tarifpolitik wird der Staat hierzu auch verlässliche, planbare Rahmenbedingungen setzen und als Ermöglicher agieren müssen. Bürokratische Einfachheit und massive Investitionen müssen die Grundlage für die soziale Marktwirtschaft 2.0 bilden. Ebenso wird es neuer, internationaler Abkommen und Kooperationen bedürfen, um die Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Selbst wenn die Ausgangslage für uns damit eine ganz andere ist, als sie es im Jahr 1948 war, liegen die Parallelen und die Lektionen, die wir aus der goldenen Epoche der sozialen Marktwirtschaft ziehen können, auf der Hand: eine Politik des Miteinanders und des Fortschritts, der der gesamten Gesellschaft zugutekommt – darauf müssen wir aufbauen.
Zu Recht sind wir in Deutschland stolz auf die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft. Gleichzeitig ist es uns Auftrag und Verpflichtung, ihr Versprechen auch in Zukunft mit Herz und Verstand umzusetzen. Auf die nächsten 75 Jahre!