Meinung

Warum die SPD Einsamkeit dringend politisch bekämpfen sollte

Einsamkeit hat häufig strukturelle Ursachen. Die Wahrscheinlichkeit von ihr betroffen zu sein, ist in der untersten Einkommensklasse dreieinhalb Mal so hoch wie in der höchsten Einkommensklasse. Sie zu bekämpfen ist eine Frage sozialer Gerechtigkeit.
von Anna-Lena Wilde-Krell · 7. Juni 2022
Einsamkeit ist ein Problem, das auch, aber nicht nur ältere Menschen betrifft.
Einsamkeit ist ein Problem, das auch, aber nicht nur ältere Menschen betrifft.

Gerda ist 87 Jahre alt, sitzt allein in ihrem Zimmer im Pflegeheim, einen Partner hat sie nicht mehr und Besuch bekommt sie nur selten. Yusuf ist 21 Jahre alt und von zu Hause ausgezogen. Zwei Jahre lang hat er in einer neuen Stadt in Fernlehre studiert und keine neuen Freundschaften geknüpft. Einsamkeit hat viele Gesichter. Mindestens jede*r Zehnte fühlt sich regelmäßig einsam. Einsamkeit klingt nach einem privaten Problem, vielleicht auch nach einem Lied der Beatles. Es ist aber nicht nur ein politisches, sondern auch ein wichtiges Thema für die Sozialdemokratie.

Was ist Einsamkeit?

Einsamkeit ist die wahrgenommene Abweichung zwischen gewünschten und vorhandenen sozialen Beziehungen eines Menschen. Es ist ein Mangel an engen sozialen Beziehungen, Freundschaften oder die fehlende Gruppenzugehörigkeit. Entscheidend ist weniger die Quantität als die Beziehungsqualität. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl und anders als Alleinsein immer negativ konnotiert, es ist keine Krankheit und kann prinzipiell jede*n treffen. Es ist kein individuelles Versagen, sondern häufig strukturell bedingt.

All the lonely people. Where do they all come from?

Die Ergebnisse der Enquetekommission „Einsamkeit“ im Landtag NRW zeigen, dass drei Gruppen besonders betroffen sind: Menschen mit niedrigem Einkommen, Menschen mit niedrigem oder ohne Bildungsabschluss und Menschen, die selbst immigriert sind.

Die Wahrscheinlichkeit von Einsamkeit betroffen zu sein, ist in der untersten Einkommensklasse dreieinhalb Mal so hoch wie in der höchsten Einkommensklasse. Das Einsamkeitsrisiko von Menschen mit niedrigen bzw. ohne Bildungsabschluss ist doppelt so hoch wie bei Menschen mit akademischen Abschlüssen und bei Menschen mit direkter Migrationserfahrung ist das Risiko zu vereinsamen doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationserfahrung. Dass Einsamkeit mit strukturellen Rahmenbedingungen zusammenhängen kann, zeigt sich auch beim Blick auf andere vulnerable Gruppen: Hier sind beispielsweise Alleinerziehende, Erwerbslose, Hochaltrige oder Menschen mit Behinderung zu nennen. Im Pandemiejahr 2020 litt jede*r Vierte unter Einsamkeit. Besonders betroffen waren Frauen, Jüngere und Migrant*innen.

Einsamkeit kann gravierende Folgen haben. Das Risiko für Depressionen und Herzkreislauferkrankungen ist erhöht. Chronische Einsamkeit kann die Lebenszeit deutlich verkürzen, ähnlich wie Alkoholmissbrauch, das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag oder starkes Übergewicht. Einsamkeit kann langfristige Folgen haben, auch für die Gesellschaft und die Demokratie. Einsame Menschen nehmen ihre Selbstwirksamkeit häufig negativ wahr und gehen seltener wählen als andere. Nicht zuletzt die niedrige Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl in NRW hat gezeigt, dass Nichtwählen ein substanzielles Problem für die Demokratie ist und dringendes Handeln erfordert. 

Einsamkeit betrifft klassisch sozialdemokratische Themen wie Bildung, Armut, Wohnen, Integration, Inklusion und Handlungspraktiken wie sich für Schwächere einsetzen, soziale Teilhabe ermöglichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Was ist zu tun?

Die Prävention und Bekämpfung von Einsamkeit müssen verbessert werden. Einsamkeit darf kein Stigma sein. Fachkräfte müssen sensibilisiert und qualifiziert werden, sei es im Gesundheitssektor oder an der Schule. Bestehende Angebote müssen sichtbarer und miteinander vernetzt werden. Häufig sind Hausärzt*innen die ersten Ansprechpersonen. Hier können Informationen zu Angeboten hinterlegt werden. Niedrigschwellige, aufsuchende Programme müssen für alle Menschen, nicht nur für Ältere vorhanden sein.

Zur Prävention gehört es, Einsamkeitsrisiken zu reduzieren. Dazu zählt z.B. der Ausbau der Schulsozialarbeit und Familienzentren, die konsequente Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes oder die Unterstützung von Alleinerziehenden.

Einsamkeitsrisiken zu reduzieren heißt auch strukturelle Änderungen in den Bereichen Armut, Bildung, Erwerbslosigkeit, Integration und Inklusion zu schaffen, um mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Regelfall und die Kooperation von psychologischen Beratungsstellen mit Jobcentern zu fördern sind Ansatzpunkte im Bereich Arbeitsmarktpolitik.

Wichtig sind zudem Veränderungen im Gesundheitswesen wie ausreichende Therapieangebote, der Ausbau sozialpsychiatrischer Gemeindezentren und Entlastungen für pflegende Angehörige.

Um Menschen niedrigschwellig zu erreichen, braucht es sozialräumlich orientierte Wohlfahrtspflege und die Stärkung der Quartiersarbeit. Öffentliche Orte wie Skateparks und Marktplätze müssen als wichtige Treffpunkte erhalten und ausgebaut werden. Letztlich müssen soziale Beziehungen und gesellschaftlicher Zusammenhalt einen anderen Stellenwert erhalten und Einsamkeit als Querschnittsthema der Politik etabliert werden.

Vereine und Nachbarschaftsinitiativen zu stärken ist, gerade nach den Pandemiejahren, gut und richtig, es ist aber nicht das grundlegende Mittel. Für Gerda, Yusuf und „all the lonely people“ braucht es strukturelle Veränderungen und die Umsetzung sozialdemokratischer Ansätze.

Autor*in
Avatar
Anna-Lena Wilde-Krell

ist Politik- und Verwaltungswissenschaftlerin und arbeitet als Referentin in der SPD-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen. Sie war Referentin in der Enquetekommission „Einsamkeit“ im Landtag NRW und hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn u.a. zu den Themen Partizipation, Parteien sowie Frauen & Politik gelehrt. 

0 Kommentare
Noch keine Kommentare