Meinung

Tatiana Herda Muñoz: „Deutsch kann ich lernen, weil ich alles kann“

Mit elf Jahren kam Tatiana Herda Muñoz aus Mexiko nach Deutschland. Ohne Deutsch zu können ging sie aufs Gymnasium, machte Abitur und studierte. Heute arbeitet sie erfolgreich als Klimaschutzexpertin und ist seit Juni SPD-Ortsvorsteherin im Mainzer Stadtteil Hechtsheim. Den Vorschlag des CDU-Politikers Linnemann nach einer Deutschpflicht für Schulkinder lehnt sie ab.
von Tatiana Muñoz · 7. August 2019
Im Juni wurde Tatiana Herda Muñoz als Ortsvorsteherin im Mainzer Stadtteil Hechtsheim gewählt.
Im Juni wurde Tatiana Herda Muñoz als Ortsvorsteherin im Mainzer Stadtteil Hechtsheim gewählt.

Meinen ersten Kulturschock hatte ich mit elf. Mit elf Jahren kam ich von Mexiko nach Deutschland, mit der Gewissheit, dass ich alles werden kann. Meine Mutter war die erste, die in ihrer Familie länger als bis zur neunten Klasse zur Schule gegangen ist. Mehr noch: Sie war die erste, die studierte. Sie konnte es sich mit einem Stipendium und einen Job, sehr wenig zu essen, manchmal einfach gar nichts, und tägliche Fahrten morgens um fünf in die benachbarte Stadt leisten. Die Fahrt mit dem klapprigen, unbequemen Bus war günstiger, als sich ein Zimmer dort zu mieten. Mit so einer Mutter aufzuwachsen, die trotz aller Widrigkeiten stolz ihr Studium absolvierte, führte zu meiner kindlichen Einsicht, dass alles in meiner Hand liegt. Ich muss nur fleißig lernen und meinen Teil dazu beitragen.

Hochmotiviert kam ich im Mai 1996 in Deutschland an. In Mexiko hatte ich bereits die fünfte Klasse in der Grundschule absolviert – dort dauert diese sechs Jahre – aber da ich kein Deutsch konnte, sollte ich die Stufe wiederholen. Ich hatte kein Problem damit, denn das gehörte nun mal zum Umzug dazu. Die letzten Monate bis zu den Sommerferien besuchte ich die vierte Klasse der örtlichen Grundschule. Ich lernte, machte Hausaufgaben und versuchte, so gut es ging zu kommunizieren.

„Ich wollte nicht in die Hauptschule“

Ich habe mich an den Kindern orientiert, die aus dem Kosovo kamen, Tomek und seiner Schwester. Auch ein Mädchen aus Afghanistan war für mich ein Vorbild. Sie alle waren nicht aus Deutschland. Und wenn sie deutsch konnten und/oder lernten, warum sollte ich es nicht können? Ich hatte auch eine sehr gute deutsche Freundin. Sie spielte Handball, war die Beste in Leichtathletik und ich wollte mich unbedingt mit ihr unterhalten können, wie mit meiner besten Freundin Blanca damals in Mexiko.

In meiner eigenen Wahrnehmung trug ich also meinen Teil dazu bei, alles werden zu können, was ich wollte. Alles verlief in meinem Kinderkopf nach Plan. Bis zu dem Tag, an dem meine Bewertung vor den Sommerferien kam. Ich sollte in die Hauptschule. Bis dato war mir nicht bewusst, dass ich in Deutschland bereits als Kind vorsortiert werden sollte. In „sorry, du bist echt schlecht“, „na gut, vielleicht wird’s doch was“ und „ja, du kannst studieren“. Hauptschule, Realschule und Gymnasium, ich habe es damals als tief unfair empfunden.

Es hat mich frustriert, mir meine klare Einsicht genommen, es hat mich komplett verunsichert. Ich wollte auf diese Schule, auf dieses Gymnasium, weil ich es mir verdient hatte, weil ich es konnte. Weil ich nicht schlechter war als die anderen Kinder. Ich konnte nur kein Deutsch. Ja, so fühlte ich es, es war doch NUR Deutsch. Das kann ich lernen, weil ich alles kann. Sehr schnell wurde klar: Egal wie sehr ich mich anstrengte, ich würde eine Hauptschulempfehlung bekommen. Es lag nicht mehr in meiner Hand.

„Du gehörst hierhin. Es liegt in deiner Hand.“

Ich hatte Glück. Zuhause hatte ich Unterstützung und ein Gymnasium gab mir die Chance, dort anzufangen. In Deutsch konnte ich zunächst nicht mal eine Benotung bekommen. Irgendwann habe ich – nicht ohne Stolz – eine Sechs geschafft. Dann kam die Fünf, die Vier und in der sechsten Klasse schließlich die Drei. Denn ich war super motiviert, ich wollte unbedingt Deutsch lernen.

Woher kam dieser innere Drang? Meine Deutschlehrerin hatte in der fünften Klasse die ersten mündlichen Noten verteilt. Zu meiner Überraschung, zu aller Überraschung, bekam ich eine Zwei. „Sie hat sich die Note verdient“ sagte sie, „weil sie es immer versucht, auch wenn sie Fehler macht“. In meinem Kinderkopf klang es so: „Du gehörst hierhin, es liegt in deiner Hand.“

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