Meinung

Sozial-ökologische Wende: Warum die politische Linke wieder mehr Visionen wagen sollte

Um den Klimawandel zu bekämpfen, steht die Welt vor grundlegenden Veränderungen. Dabei können wir in eine rosige Zukunft blicken. Dafür müssen wir aber den Mut aufbringen, die Zukunft auch sozial-ökologisch zu gestalten.
von Paul Mason · 5. März 2021
So stellte man sich im 19. Jahrhundert Arbeit im Jahr 2000 vor. Auch heute ist es wieder Zeit für Utopien, meint Paul Mason.
So stellte man sich im 19. Jahrhundert Arbeit im Jahr 2000 vor. Auch heute ist es wieder Zeit für Utopien, meint Paul Mason.

In den kommenden 60 Jahren müsste es möglich sein, die Industrie vollständig zu automatisieren, sodass die Belegschaft in den meisten Fabriken nur noch Aufsichtsfunktionen übernimmt. Bis dahin dürften nicht nur menschliche Abläufe automatisiert sein, sondern die Abläufe selbst sollten sich grundsätzlich nicht mehr am Menschen orientieren.

Mehr als 95 Prozent der Beschäftigten arbeiten 2080 in Dienstleistungen, viele von ihnen von Mensch zu Mensch. Weil Finanzspekulationen verboten und zahlreiche Abläufe automatisiert wurden, sind im Finanzsektor nur wenige Menschen tätig. In den Bereichen Gesundheit, Kultur, Sport und Bildung ist die Zahl der Beschäftigten deutlich größer und stellt die Unternehmensdienstleistungen ebenso in den Schatten wie heute schon die Industrie.

Netto-Null-Emissionen und günstige Mieten

Die meisten Menschen „arbeiten“ nur zwei oder drei Tage pro Woche, und wie heute ist Arbeit eine Mischung aus Arbeit und Freizeit. Es gibt keine Tech-Monopole mehr, sondern einen Mix aus innovativen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die traditionell auf Gewinn aus sind, sowie ­öffentlichen Informationsversorgern, die lediglich die Kosten für Produktion und Verwaltung berechnen.

Ganzheitliche Medizin, Bildung bis zum Hochschulabschluss und der öffentliche Nahverkehr sind kostenlos. Die durchschnittliche Miete liegt bei etwa fünf Prozent des Durchschnittseinkommens, dasselbe gilt für den Zinssatz für Immobiliendarlehen. Im Jahr 2080 ist das Ziel der Netto-Null-Emissionen schon lange erreicht, und eine progressive Stadtverwaltung arbeitet daran, das CO2 mittels innovativer Techniken aus der Atmosphäre zu holen und dem Rest der Welt eine CO2-Entschädigung zu entrichten.

Kampf gegen Finanzspekulation

Rückblick: Die Jahre 2020 bis 2030 standen ganz im Zeichen des kulturellen und politischen Kampfes um einen neuen Kapitalismus. Es bildeten sich Regierungen, die Finanzspekulation bekämpften, eine Million klimafreundlicher Sozialwohnungen bauten und mit dem energetischen Umbau des gesamten restlichen Wohnungsbestandes begannen. Sie subventionierten die Entwicklung neuer städtischer Nahverkehrssysteme und die Beseitigung sämtlicher Benzin- und Diesel-Pkw und -Lkw von den Straßen. Sie zerschlugen oder verstaatlichten die Tech-Monopole und überführten die erfassten Daten in öffentliches Eigentum.

Sie förderten gezielt die Entstehung eines großen und vielfältigen gemeinnützigen Sektors. Und sie befreiten das Sozialsystem von allem Zwang und überführten Rente und Sozialhilfeleistungen in ein bescheidenes Grundeinkommen, das als Grundrecht in der Verfassung verankert wurde.

Zerschlagung der Finanzglobalisierung

Die 2020er Jahre waren beherrscht vom Kampf zwischen einer profitorien­tierten und einer mensch-und-umwelt-­orientierten Wirtschaft. Eine radikal sozialdemokratische Regierung förderte bewusst den Aufbau einer Privatwirtschaft aus kleinen und mittleren Unternehmen, die auf technologische und ­soziale Innovation setzen.

Das globale Wirtschaftssystem konnte die Entwicklung eines ökologischen Postkapitalismus durch linksliberale und sozialdemokratische Parteien nicht überleben. Nach der Zerschlagung der Finanzglobalisierung fand nach 2030 jedoch eine neue Form der wirtschaftlichen Globalisierung in den Bereichen Reise, Informationsaustausch und Rohstoffhandel statt.

Eine Utopie für die politische Linke

Zurück zur Gegenwart: Heute muss die Linke, um die Kämpfe der 2020er Jahre zu bestehen, eine eigene Utopie entwickeln. Die derzeitigen Bemühungen politischer Entscheider, Wissenschaftler und Demonstranten um Klimaneutralität sind von einem eklatanten Mangel an Fantasie geprägt, wie denn die Wirtschaft, auf die man zusteuern müsste, ­eigentlich aussehen sollte. Da die Welt nun gezwungen ist, sich einen Kapitalismus ohne Emissionen vorzustellen, kommt auch die Wirtschaftswissenschaft nicht umhin, sich eine Wirtschaft ohne zwingende Lohnarbeit vorzustellen.

Ziel muss es sein, emissionsfrei zu wirtschaften und in puncto Ressourcen eine Kreislaufwirtschaft herzustellen, Arbeitsstunden zu reduzieren, Gesundheit und Glück der Menschen messbar zu erhöhen, den Rostgürtel der Vorstädte wieder an das Zentrum anzubinden und nachhaltige Lebensmittelquellen zu erschließen. Die Aufgabe, Modelle für die Wende zu entwickeln und zu testen, muss daher sehr ernst genommen werden.
Bis zum Jahr 2080 muss sich eine Wende vollzogen haben. Die allerdings wird nur kommen, wenn wir die ­Fantasie dafür aufbringen.

Autor*in
Paul Mason

ist Autor und Fernsehjournalist. Sein Buch Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie erschien 2016, Klare, lichte Zukunft - Eine radikale Verteidigung des Humanismus erschien 2019.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare