Meinung

„Sonderrechte“ für Geimpfte: Falsche Debatte zur falschen Zeit

Wer einen Blick auf die Impfquote in Deutschland wirft, dem wird schnell klar: Eine Diskussion über Privilegien für Geimpfte ist aktuell völlig überflüssig und irrelevant. Trotzdem ist es fatal, wenn über „Sonderrechte“ gesprochen wird, wenn eigentlich Grundrechte gemeint sind.
von Benedikt Dittrich · 4. Februar 2021

Bei nicht einmal drei Prozent Geimpften mehr als 80 Millionen Einwohner*innen in Deutschland stellt sich die Frage eigentlich nicht, ob die wenigen, die vor einem schweren Verlauf von Covid-19 geschützt sind, schon wieder große Konzerte besuchen dürfen oder ähnliches. Trotzdem preschte Deutschlands größter Konzertveranstalter und Ticketverkäufer „Eventim“ gestern vor – und brachte die Möglichkeit ins Gespräch, Konzerte nur für Geimpfte zu ermöglichen.

Wenn man bedenkt, dass zurzeit gerade mal Hochrisikogruppen und sehr alte Menschen überhaupt geimpft werden und es völlig unklar ist, ob Geimpfte das Virus nicht trotzdem weitergeben können, dann wird schnell deutlich: Das ist eine Scheindebatte. Solange nicht breite Schichten der Bevölkerung geimpft werden konnten, solange das Virus immer noch weitergegeben werden kann, solange braucht Eventim nicht damit rechnen, dass in absehbarer Zeit Konzerte in Clubs und Hallen wieder ausverkauft sein werden – Impfausweis hin oder her. Von weiteren Mutationen des Coronavirus, um der Wirkung der Immunisierung zu entgehen, ganz zu schweigen. Solange Großveranstaltungen aus Gründen des Gesundheitsschutzes verboten bleiben, brauchen sich die Veranstalter*innen und Clubbesitzer*innen diese Illusionen nicht machen. Diese Frage stellt sich aktuell also noch gar nicht – das hat auch der Ethikrat am Donnerstag in aller Deutlichkeit am Donnerstag erklärt.

Allerdings kritisierte der Ethikrat auch sehr deutlich die Wortwahl innerhalb der Debatte. Die Frage nach „Privilegien“ würde die Debatte nur unnötig polarisieren, sagte unter anderem die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx: „Deswegen würde ich mich freuen, wenn dieser Begriff nicht mehr benutzt wird.“ Damit hat Buyx vollkommen recht – und man kann es auch auf den Begriff der „Sonderrechte“ ausdehnen. Wenn wir schon als Gesellschaft darüber diskutieren, ob Geimpfte möglicherweise irgendwann Dinge dürfen, die Nicht-Geimpfte noch nicht dürfen, dann sollten wir zumindest die richtigen Begriffe benutzen.

Grundrechte sind weder Privileg noch Sonderrecht

Die „Sonderrechte“, die gerade diskutiert werden, sind nämlich Grundrechte, die seit fast einem Jahr pandemiebedingt eingeschränkt sind. Aus guten Gründen zwar, nämlich dem Schutz von Leib und Leben für uns selbst und unsere Mitmenschen. Aber es sind Grundrechte, ja, Freiheitsrechte, auf denen unsere Gesellschaft basiert, die über Jahrzehnte erkämpft und immer wieder verteidigt werden mussten. Freiheitsrechte, die an vielen Orten auf der Welt auch außerhalb der Pandemie nicht gelten. Das eigentliche Privileg ist es, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der eine gewählte Regierung diese elementaren Rechte nur mit einer sehr guten Begründung und zeitlich begrenzt einschränken darf.

Diese Grundrechte sollten wir nicht als „Sonderrechte“ herabwürdigen – und aus dem Justizministerium war dieser Tage schon zu hören, dass es einer Debatte über die Rückkehr dieser Grundrechte eigentlich gar nicht bedarf. „Nicht die Ausübung von Grundrechten bedarf der Rechtfertigung, sondern die Einschränkung der Grundrechte durch den Staat“, sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) Ende Januar. Wenn also der Grund für die Einschränkung – aktuell: der Gesundheitsschutz – wegfällt, dann können, ja, müssen auch die Einschränkungen wegfallen.

Die traurige Realität ist aber: Davon sind wir leider noch sehr sehr weit entfernt.

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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