Meinung

Privatisierung des Sozialstaats: Warum Schweden eine Mahnung ist

Deutschland steht vor der Herausforderung, sich längst überfälligen Reformen in der Sozial-, Gesundheits-, und Bildungspolitik zu widmen. Ein Blick nach Schweden kann dabei helfen – als abschreckendes Beispiel.

von Gustaf Lantz · 6. Juni 2025
Schild des Sahlgrenska-Krankenhauses im schwedischen Göteborg

Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg: Das schwedische Gesundheitssystem ist in die Fänge der Privatisierung geraten, kritisiert Gustaf Lantz.

Schweden, einst Vorbild eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats, ist seit den 1990er-Jahren zu einem neoliberalen Experimentierfeld geworden. Als Abgeordneter des Sozialausschusses beschäftige ich mich täglich mit den Auswirkungen dieser Entwicklung. Durch massive Privatisierungen, Outsourcing und die Einführung sogenannter Voucher – einem System öffentlicher Finanzierung privater Dienstleister – wurden zentrale öffentliche Leistungen in Bildung, Gesundheit und Arbeitsvermittlung stärker den Regeln des Marktes unterworfen als in keinem anderen europäischen Land.

Ein neoliberaler Albtraum

Die schwedischen Expertinnen Lisa Pelling und Mia Laurén haben gerade in Zusammenarbeit mit dem Büro für die Nordischen Länder der Friedrich-Ebert-Stiftung eine lesenswerte Studie darüber veröffentlicht. In dieser malen sie ein größeres Bild der verheerenden Folgen und beschreiben auch, weshalb schwedische Konzerne nun Deutschland ins Visier nehmen.

Wie konnte es soweit kommen? Anfang der 1990er-Jahre öffnete Schweden viele seiner Sozialstaatsleistungen für private Anbieter mit dem Ziel, durch Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern Effizienz zu steigern. In Wirklichkeit sank aber – wenig verwunderlich – die Qualität der Angebote, um Profite zu maximieren. Private Anbieter sparten an Personal, besetzten mehr Stellen mit unqualifizierten Kräften und trieben trotzdem die Kosten in die Höhe. Ein erheblicher Teil öffentlicher Mittel fließt seitdem in die Taschen von Aktionär*innen und internationalen Investor*innen.

Kontrollverlust statt Wahlfreiheit

Paradoxerweise verstärkt Privatisierung die Bürokratie sogar noch, da nun komplexe staatliche Kontrollinstanzen gebraucht werden, um die Profitgier einigermaßen im Zaum zu halten. Von einer Entlastung des Staates kann also kaum die Rede sein. Kommt es zudem zu Unstimmigkeiten nach Vertragsabschluss, bleiben oft nur kostspielige Schlichtungsverfahren. Private Anbieter übernehmen keine Verantwortung für das Gesamtsystem – sie suchen sich die lukrativsten Kund*innen aus und überlassen die aufwändigeren Fälle dem Staat.

Besonders schmerzlich ist die Einsicht, dass Schweden durch diese Privatisierung staatlicher Aufgaben Einfallstore geschaffen hat für organisierte Kriminalität. Bandenkriminelle haben beispielsweise Gesundheitszentren oder Jugendheime infiltriert, um diese als Einnahmequellen, Geldwaschmaschinen oder als Anwerbeplatz für weitere kriminelle Aktivitäten zu nutzen. Zwar sind der Polizei einschlägige Strukturen und Namen bekannt, doch hat es sich als schwierig erwiesen, solche Einrichtungen zu kontrollieren und Tatbestände nachzuweisen.

Profit geht vor Gleichheit

„Wo Profit im Vordergrund steht, wird soziale Gerechtigkeit zur Nebensache. Wer bereits über Ressourcen, Bildung oder gute Gesundheit verfügt, kann die Wahlfreiheit besser für sich nutzen, während alle anderen das Nachsehen haben“, sagt Lisa Pelling.

Aktuell werden 16 Prozent aller Schüler*innen in Schweden in privaten Grundschulen unterrichtet. Diese umfassen neun Schuljahre. Wobei drei Viertel davon von Aktiengesellschaften betrieben werden. Da es viele kleine Privatschulen gibt, werden die großen Schulkonzerne immer größer: Fast die Hälfte aller Schüler*innen an privaten Grundschulen besucht eine Schule, die zu einem der acht größten Schulkonzerne gehört. Der größte davon ist Internationalla Engelska Skolan AB mit mehr als 30.000 Schüler*innen und 46 Schulen, gefolgt von AcadeMedia AB mit etwas mehr als 22.000 Schüler*innen verteilt auf 83 Schulen.

Ein krankes Gesundheitssystem

Das schwedische Schulsystem mit Bildungschecks, sogenannten Vouchern, sieht vor, dass Kommunen allen Schüler*innen einen Bildungscheck in Höhe der Beschulungskosten an einer öffentlichen Schule ausstellen. Eltern und Schüler*innen können dann selbst entscheiden, ob sie diesen bei einer öffentlichen oder einer privaten Schule einlösen. Letztere etablieren sich oft in wohlhabenderen Gegenden, erhalten damit doch die gleiche staatliche Finanzierung. Bewerben sich zum Beispiel Schüler*innen mit größerem Förderbedarf, können diese willkürlich aussortiert werden.

Eine ähnliche Auswahl findet im Gesundheitswesen statt: Patient*innen mit schwereren Krankheiten werden abgelehnt, während gesunden Patient*innen nicht notwendige Gesundheitsleistungen unterbreitet werden. Die zusätzlichen – oftmals digitalen – Angebote, die private Dienstleister schaffen, federn das normale Aufkommen also nicht ab, sondern belasten es zusätzlich.

Deutschland im Visier des falschen Bullerbüs

Der massive Mangel an Kitaplätzen, Lehrkräften und der Gesundheitsversorgung auf dem Land macht Deutschland anfällig für ähnliche Entwicklungen. Schwedische Wohlfahrtskonzerne sind auf diese Mängel nämlich aufmerksam geworden und wittern in Deutschland einen neuen, lukrativen Markt. Dabei ist die gezielte Expansion dorthin schon im vollen Gange.

Die Aktiengesellschaft AcadeMedia AB betreibt bereits fast 100 Kitas und Schulen in der Bundesrepublik. Das Perfide daran: Viele dieser Unternehmen nutzen das alte Büllerbü-Image Schwedens und werben gezielt für „skandinavische Bildung“ – mit Bildern von Gleichheit, Naturverbundenheit und Kinderrechten. Gemeinnützige Träger wie Elterninitiativen oder Wohlfahrtsverbände können mit dieser Marketingkraft kaum mithalten.

Macht nicht denselben Fehler wie wir!

Privatisierung wird oft als Antwort auf einen überlasteten öffentlichen Sektor präsentiert, wenn in Wahrheit Unterfinanzierung das Problem ist. Ich möchte daher einen Appell an Verantwortungstragende und Genoss*innen der deutschen Sozialdemokratie richten: Macht nicht denselben Fehler wie wir! Was würden wir dafür geben, die Uhr um 20 Jahre zurückdrehen zu können. Ihr habt jetzt noch die Wahl, diesem Irrweg zu widerstehen, wenn der nächste Hochglanzflyer in euren Kommunen und Behörden einflattert.

Es liegt auf der Hand, dass sich der Sozialstaat für uns als Sozialdemokrat*innen an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten muss und nicht an den Renditeerwartungen von Investor*innen – auch wenn schnelle Lösungen von Nöten sind. Auch die Mehrheit der schwedischen Bevölkerung, über die politischen Lager hinweg, lehnt eine Privatisierung des Sozialstaats ab. Ist die Privatisierungsbüchse der Pandora jedoch einmal geöffnet, so ist es sehr schwierig und teuer, sie wieder zu schließen.

Autor*in
Gustaf Lantz
Gustaf Lantz

ist Abgeordneter der Sozialdemokraten im schwedischen Reichstag. Dort ist er Mitglied der Sozialausschusses sowie des parlamentarischen Deutschland-Freundeskreises.

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