Meinung

Diese Folgen hätte eine Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel

Die israelische Regierung plant eine Eingliederung palästinensicher Territorien in den Staat Israel. Das wäre brandgefährlich und hätte unabsehbare Folgen. Ein Blick aus Tel Aviv und Ost-Jerusalem.
von Hannes Alpen · 30. Juni 2020
Wütender Protest der Palästinenser gegen Annexionspläne
Wütender Protest der Palästinenser gegen Annexionspläne

In Israel tagt bis zum 1. Juli 2020 ein amerikanisch-israelisches Komitee, das über die palästinensischen Gebiete berät, die die israelische Regierung dann unilateral annektieren können soll. Dass die israelische Regierung daran ein grundsätzliches und sehr konkretes Interesse hat, hat sie in ihrem Koalitionsvertrag im Mai 2020 festgeschrieben. Es ist noch unklar, wann und in welchem Ausmaß die israelische Regierung sich zu einem solchen Schritt entscheiden wird. Allerdings hat die Intention allein bereits eine verheerende Signalwirkung.

Ein eklatanter Bruch des Völkerrechtes

Eine unilaterale Annexion von Teilen der palästinensischen Gebiete, egal wie groß oder klein sie am Ende ausfällt, wäre nicht nur ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, sie würde auch der ohnehin schwindenden Aussicht auf eine friedliche Zweistaatenlösung erheblich zuwiderlaufen. Es gibt bereits massive Kritik an dem Vorhaben. Die israelische Linke befürchtet, eine unilaterale Annexion könne die israelische Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung zementieren und Israel seinen demokratischen Charakter verlieren. Israelische Sicherheitsexperten sehen ein großes Sicherheitsrisiko für Israel und eine deutliche Verschlechterung der guten Beziehungen zu Jordanien und Ägypten. Auch international, mit Ausnahme der Trump-Administration, hagelt es Kritik, die bis zu klaren Sanktionsforderungen reicht. Ein offener Brief, initiiert von ehemaligen Knesset-Abgeordneten der sozialdemokratischen Familie, der die Worte des EU-Außenbeauftragten Josep Borell aufgreift, dass eine Annexion „nicht unangefochten“ bleiben könne, wurde europaweit von 1080 Parlamentsabgeordneten unterschrieben.

In der deutschen Politik hält man sich traditionell mit Kritik an Israel zurück. In der Regel bringt man allein seine Sorgen zum Ausdruck, dies aber nur nach langen Vorreden und dem Betonen gemeinsamer Werte. Ob dies in der aktuellen Frage der richtige Weg ist, ist fraglich. Denn offensichtlich divergieren die Werte in puncto Annexion erheblich. Deutschland ist viel gelegen an der rechtsbasierten internationalen Ordnung. Eine unilaterale Annexion und auch die andauernde israelische Besatzung mit dem stetigen Siedlungsbau stehen in einem diametralen Verhältnis dazu. Auch aus Israel mehren sich die Stimmen, die für eine offenere Debatte in Deutschland werben. So schrieb der ehemaligen israelischen Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, im Tagesspiegel, „Deutschland muss endlich den Mund aufmachen“. Am 1. Juli soll im Bundestag zu dem Thema diskutiert werden.

Für ein Ende der israelischen Besatzung seit 1967

Für uns als Partner*innen der Sozialdemokratie in der Konfliktregion ist nicht immer klar, ob die Schwere der Lage richtig eingeschätzt wird. Grundlage einer sozialdemokratischen Nahostpolitik sollte sein, für ein Leben in Freiheit, Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen einzutreten, die zwischen Jordanfluss und Mittelmeer leben. Dazu gehört, entschieden für ein Ende der seit 1967 andauernden israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete einzutreten. Es gibt keine guten Argumente für eine andauernde Besatzung. Für eine solche Haltung und Politik finden sich Partner*innen auf beiden Seiten, auch in der sozialdemokratischen Parteienfamilie. Ihre Stimmen gilt es zu hören und ihre Stimmen gilt es zu stärken.

Die bestmögliche Umsetzung einer gerechten Friedensvision ist noch immer das Erreichen einer verhandelten Zweistaatenlösung. Dazu gehört auch die Einrichtung und Anerkennung eines lebensfähigen palästinensischen Staates an der Seite Israels. Viele Staaten, darunter Deutschland, glauben die Annerkennung des palästinensischen Staates könne erst das Ergebnis einer verhandelten Lösung mit Israel sein. Damit überlassen diese Staaten das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen in der Hand Israels, das aktuell von einer Regierung angeführt wird, in der sich Mitglieder befinden, die das Existenzrecht eines palästinensischen Staates offen ablehnen. Die Anerkennung eines palästinensischen Staates könnte im Angesicht des Annexionsvorhabens der israelischen Regierung ein starkes Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung sein.

Unilateralen Schritten entschieden entgegenwirken

In der aktuellen Konfliktsituation ist diese Zweistaatenlösung in weite Ferne gerückt. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, vor allem unter jungen Palästinenser*innen, auf eine Einstaatenlösung hinzuarbeiten, also einem binationalen Staat mit gleichen Rechten für alle Bürger*innen. Dieses Szenario wird in Israel wenig Anklang finden, weil es den dezidiert jüdischen Charakter des Staates untergraben würde. Man würde also glauben, in israelischen Regierungskreisen würde größtmögliches Interesse an einer Zweistaatenlösung bestehen. Dies ist leider aktuell mitnichten der Fall. Stattdessen hat die rechtsnationale Siedlerbewegung immer größeren Anteil an der Regierung gefunden und arbeitet auf eine Einstaatenlösung hin, die den Palästinenser*innen jedoch höchstens eine Teilautonomie einräumt, ohne gleiche Rechte.

Es hat in der Vergangenheit bereits viele Versuche gegeben, eine gerechte Friedenslösung auf der Grundlage internationaler Parameter (UN-Sicherheitsratsresolutionen) zu erreichen. Das bisherige Scheitern dieser Versuche sollte allerdings nicht zu dem Schluss führen, mann müsse jetzt mal etwas Neues probieren und versuchen, nach dem Prinzip des Stärkeren und unter Mißachtung internationalen Rechts, eine „Lösung“ zu erzwingen. Die Sozialdemokratie sollte daher unilaterale Schritte, die einer Zweistaatenlösung entgegenstehen, wie die geplante Annexion, entschieden entgegenwirken. Seine Sorgen zum Ausdruck zu bringen und es ansonsten bei einer bedingungslosen Unterstützung Israels zu belassen, ist jetzt besonders kontraproduktiv.

Recht auf Selbstbestimmung und Sicherheit

Auch eine bedingungslose Unterstützung einer palästinensischen Selbstverwaltung sollte vor dem Hintergrund autoritärer Tendenzen geprüft werden. Zwar müssen sich die Palästinenser*innen ihr Recht auf Selbstbestimmung und ein Leben in Frieden und Freiheit nicht erst verdienen. Die Sozialdemokratie sollte sich jedoch weiterhin für ein demokratisches und sozial gerechtes Palästina einsetzen, das selbstbestimmt und friedlich neben Israel existieren kann.

Die Sicherheit Israels hat für Deutschland und die deutsche Sozialdemokratie große Bedeutung. Daher sollte sie sich weiterhin deutlich für die Sicherheit Israels einsetzten. Hierbei sollte ein umfassendes Sicherheitsverständnis zur Anwendung kommen, das berücksichtigt, dass nur ein Ende der Besatzung und ein nachhaltiger Frieden mit den Palästinenser*innen zu einem dauerhaften Frieden führen kann.

Deutschland sollte Verantwortung nutzen

Deutschland befindet sich ab 1. Juli in einer besonders verantwortungsvollen internationalen Rolle. Es übernimmt sowohl die EU-Ratspräsidentschaft als auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Deutschland sollte in diese Verantwortung mit einer deutlichen pro-Frieden und pro-Menschenrechte Haltung gehen und die Situation der Krise dafür nutzen, um einen Beitrag zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu leisten.

Autor*in
Hannes Alpen

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem und vertritt die Stiftung in den Palästinensischen Gebieten.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare