Der Kniefall ist eine Verpflichtung für die junge Generation
imago/Winfried Rothermel
Jede Generation wird für sich durch geschichtliche Ereignisse geprägt. Und gleichzeitig gibt es Geschehnisse, die uns alle verbinden, mitnehmen und mahnen – über Jahrhunderte hinweg. In der deutschen Geschichte gibt es nichts, das mich so bewegt, wie der Kniefall von Willy Brandt. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ So hat er selbst es 29 Jahre später beschrieben.
Mit dem Kniefall wollte Brandt ein Signal an die Welt senden
Im Jahr 1970 hat Willy Brandt, das Gesicht einer Nation, die wenige Jahre zuvor Leid und Verzweiflung über viele Millionen Menschen gebracht hat, unmittelbar vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages mit einer beeindruckenden Geste Demut bekundet. Er bat um Vergebung, nicht weil er mitschuldig war, sondern weil er als deutscher Bundeskanzler ein Signal an die polnischen Bürger*innen und die ganze Welt senden wollte.
Dort am Ehrenmal für die Helden des Ghettos in Warschau, dem Ort, an dem Deutschland sein hässlichstes Gesicht zeigte, wo es Familien auseinanderriss, wo die Nazis Menschen töteten und ohne jeglichen Respekt behandelten. An diesem Ort wurde Willy Brandt selbst so sehr von dem ergriffen, was sein Land während der Zeit des Nationalsozialismus angerichtet hat. Dort, wo Deutschland am unmenschlichsten war, hatte Willy Brandt einen der menschlichsten Momente deutscher Nachkriegsgeschichte.
Ein Leben als Ergebnis des Wirkens Willy Brandts
Wenn ich heute auf diese Zeit und dieses Ereignis blicke, empfinde ich Verachtung gegenüber Teilen der Geschichte meines eigenen Landes und Demut davor, wie die Generationen vor uns Versöhnung zwischen Polen und Deutschland geschaffen haben.
Viele meiner Freund*innen kommen aus Polen oder wohnen dort. Wenn ich aus dem Fenster meiner Wohnung schaue, kann ich die polnische Grenze sehen. Meine Universität hat einen Campus in Deutschland und einen in Polen. Mein heutiges deutsch-polnisches Leben ist das Ergebnis jahrelangen Einsatzes für Völkerverständigung, Frieden und auch ganz konkret aus dem Wirken Willy Brandts.
Internationale Verständigung muss unsere Kernidentiät sein
Gerade als junger Mensch ist mir bewusst, wie wichtig der Austausch zwischen den Nationen und wie groß die Verantwortung meiner Generation ist, dass das Gewesene nicht in Vergessenheit gerät, sondern dass wir unsere Geschichte als Mahnung und Aufgabe sehen. Während die Menschen in meinem Alter in einem grenzenlosen Europa aufgewachsen sind und viele von uns nie Krieg kennengelernt haben, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass wir dieses Geschenk nur an die kommenden Generationen weitergeben können, wenn wir Demokratie, Frieden und Verständigung als wichtigste Aufgaben unseres Handelns begreifen.
Wir sind diejenigen, die in die Zukunft tragen müssen, dass all die Arbeit der vorherigen Generationen nicht an Bedeutung verliert. Und wir sind die, die sich in der Gesellschaft, den Parlamenten und Parteien Tag für Tag dafür einsetzen müssen, dass internationale Verständigung keine beiläufige Selbstverständlichkeit, sondern Kernidentität von uns allen ist.