Meinung

Corona-Krise: Sich auch in die Lage der anderen einfühlen

Auf der einen Seite zeigt die Corona-Krise beeindruckende Hilfe von Staat und Privaten. Auf der anderen Seite verschärft sie die Probleme von Bildungs- und Gender-Ungleichheit. Deshalb ist Solidarität so wichtig.
von Tanja Dückers · 7. Mai 2020
Gelebte Solidarität: In der Corona-Krise Nachbarn beim Einkaufen unterstützen, das schützt die Gesundheit und zeigt Nähe – trotz des Distanzgebotes.
Gelebte Solidarität: In der Corona-Krise Nachbarn beim Einkaufen unterstützen, das schützt die Gesundheit und zeigt Nähe – trotz des Distanzgebotes.

em Thema Solidarität kommt in Zeiten Coronas eine besondere Bedeutung zu. Die Situation scheint ambivalent zu sein: Auf der einen Seite beeindrucken öffentliche und private Hilfsaktionen. So erstaunt es, dass zum Beispiel in Berlin mittels der Soforthilfe der Investitionsbank IBB innerhalb kürzester Zeit Tausenden von Kulturschaffenden und anderen Kleinunternehmerinnen und -unternehmern finanziell unter die Arme gegriffen werden konnte. Rund eine Milliarde Euro wurde in wenigen Tagen überwiesen.

Applaus allein reicht nicht aus

Beeindruckend ist auch das private Engagement. Um nur ein Beispiel unter vielen originellen Ideen zu nennen: -Einen Berliner Segler hatte die Kritik einer Krankenpflegerin „Euren Applaus könnt ihr Euch sonst wohin stecken“ sehr beschäftigt; vor allem der Satz darin „Wir wollen auch mal reisen, uns etwas ansparen“. Prompt startete er in seiner Segler-Gemeinschaft eine Spendenaktion, um einer Person mit Partner oder Partnerin aus dem Pflegebereich mal – zu einem späteren Zeitpunkt, wenn Pflegende wieder entbehrlicher sind – einen einwöchigen Segeltörn zu ermöglichen. Das angepeilte Spendenziel war schon bald weit überschritten.

Auf der anderen Seite werden jedoch bestehende gesellschaftliche Probleme durch die Krise verschärft. Seit Jahren wird in Deutschland beklagt, dass die erfolgreiche Ausbildung der Kinder in starkem Maße von der Herkunft der Eltern abhinge. Europaweit belegt Deutschland einer OECD-Studie zufolge einen der letzten Plätze in der sogenannten „Schicht-Transparenz“, d.h. die soziale Herkunftsschicht wird selten verlassen. Mit Homeschooling auf unabsehbare Zeit werden diese Gräben tiefer, die Chancen geringer für Kinder, deren -Eltern sich weniger Zeit zu Hause nehmen können oder zum Teil den Unterrichtsstoff selbst nicht verstehen. Auch wenn es derzeit keine Alternative zu den Schulschließungen gibt: Hierbei handelt es sich um ein großes sozialpädagogisches Experiment, dessen Folgen noch zu analysieren sein werden.

Frauen kommen besonders unter Druck

Mit der Gendergerechtigkeit wird es derzeit auch schwierig: Sogenannte systemrelevante Berufe sind oft wenig renommiert und schlecht bezahlt – und oft genug weibliche Domänen. Nun sind es mehr Frauen als Männer, die gezwungen sind, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen und sich gesundheitsgefährdenden Situationen auszusetzen: ob im Krankenhaus, als Sprechstundenhilfe in den Arztpraxen, an der Supermarkt-kasse oder als Erzieherin in der Not-betreuung von Kindern.

Die beiden genannten Phänomene – Bildungs- und Genderungleichheit – sind Teil eines größeren Problems: die Kluft zwischen Arm und Reich. Wer sich ins Homeoffice oder doch gleich ins eigene Ferienhaus absetzen kann, lebt derzeit gesünder, sicherer und angenehmer. Das Thema „Soziale Ungerechtigkeit“ hat die  die Deutschen auch vor Corona stark -beschäftigt. Laut „Spiegel-Wirtschaftsmonitor“ vom Herbst 2019 belegt das Thema „die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen“ den ersten Platz, was Probleme in der Wirtschafts- und Sozialpolitik angeht – noch deutlich vor der Vereinbarkeit von Umweltschutz und Ökonomie. Die Sorge ist begründet, denn die Ungleichheit der Einkommen hat seit der Wende stark zugenommen, das bestätigt u. a. auch der im vergangenen Jahr erschienene Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Mit dem Gini-Koeffizient wird gemeinhin der Grad an Ungleichheit gemessen. Insbesondere zwischen 1998 und 2005 stieg er in Deutschland stark an. In Folge der Finanzkrise gab es einen leichten Rückgang, da hier gerade Wohlhabende Geld verloren, aber 2019 hatte er einen Rekordwert von 29,5 Prozent. Noch nie seit der Wende gab es solch eine große Kluft zwischen Arm und Reich. Was üblicherweise nur zu Verdruss führt, weil der eine in Martinique am Strand liegt, während der andere auf Balkonien-Scrabble spielt, hat jetzt unter Umständen lebensentscheidende Folgen.

Zurückhaltung ist Rücksicht

Besonders beliebt bei wohlhabenden Deutschen sind Immobilien, gern in Form von Zweitwohnsitzen und Ferienwohnungen. In Großstädten fallen jetzt schon die leeren Parkplätze auf. Wer es sich leisten kann, hat sich aufs Land verzogen. Und schickt den Zurückgebliebenen in den Innenstädten, in denen aufgrund der Bevölkerungsverdichtung die Corona-Fallzahlen deutlich höher liegen, nun fröhliche Strandbilder, Sonnenuntergänge aus dem Allgäu, Blökende-Kuh-Bilder von der Schwäbischen Alb mit dem Verweis darauf, wie entschleunigt man doch jetzt leben würde, welche neuen Gedanken die innere Einkehr mit sich brächte, welchen kreativen Output man doch hätte und wie naturnah man lebe. Das ist dann der Hohn für die weniger entschleunigt lebende Krankenschwester, den Postboten mit vielen unfreiwilligen sozialen Kontakten oder auch für die im Homeoffice in der Großstadt arbeitende Mutter von zwei Kindern, die in einer Mietswohnung, ohne Garten, für gute Laune sorgen muss.

Vielleicht bedeutet Solidarität in Corona-Zeiten auch: etwas Einfühlung in die Situation der anderen. Zurückhaltung, wenn es einem selber prima geht, weniger Selbstauskünfte, wenn man nicht danach gefragt wird.

Autor*in
Tanja Dückers

ist Schriftstellerin und Journalistin.

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