Bulgarien: Warum der Protest der Generation Z eine Chance für das Land ist
Die jüngsten Massenproteste in Bulgarien haben eine neue Qualität. Sie sind von Menschen geprägt, die mit politischen Parteien nichts zu tun haben. Nun kommt es darauf an, dieses Potenzial zu nutzen.
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Die Massenproteste in Bulgariens Hauptstadt Sofia führten zum Rücktritt der Regierung.
Am Donnerstag ist die bulgarische Regierung unter Rossen Scheljaskow als Reaktion auf die massiven regierungskritischen Proteste der letzten zwei Wochen zurückgetreten. Formal handelte es sich um eine Minderheitsregierung, die sich aus drei Parteien zusammensetzte: der rechtskonservativen Partei GERB des langjährigen Premierministers Bojko Borissow, der auch der Ex-Ministerpräsident Scheljaskow angehört. Der populistischen Partei „Es gibt so ein Volk“ des Showmasters Slavi Trifonow, vergleichbar mit dem italienischen Beppe Grillo. Und schließlich der linken Bulgarischen Sozialistischen Partei.
Die Koalition stand von Anfang an in der Kritik
Diese Koalition, die nach schwierigen Verhandlungen vor elf Monaten zustande gekommen war, war von Anfang an auf viel Kritik und Ablehnung in der bulgarischen Gesellschaft gestoßen. Beunruhigend waren sowohl ihre ideologische Heterogenität als auch die Tatsache, dass die beteiligten Parteien jahrelang öffentlich geschworen hatten, niemals gemeinsam zu regieren.
Der Grund für ihren Zusammenschluss war jedoch in gewisser Weise außergewöhnlich. Seit dem Sommer 2020 befand sich Bulgarien in einer tiefen politischen Krise, die durch soziale Polarisierung und Fragmentierung des Parteiensystems gekennzeichnet war. Dadurch konnten sich keine stabilen Mehrheiten bilden. Vorgezogene Neuwahlen, sechs an der Zahl in einem Zeitraum von dreieinhalb Jahren, waren zur Normalität geworden, die Öffentlichkeit reagierte darauf zunehmend distanziert und die Wahlbeteiligung sank.
Das große Problem der Regierung Scheljaskow war jedoch weder die schwierige ideologische Unvereinbarkeit der beteiligten Parteien, noch die Tatsache, dass es sich um eine Minderheitsregierung handelte. Das große Problem schien vielmehr ein vierter, „versteckter” Partner in der Regierung zu sein, der regelmäßig für eine Mehrheit der Regierungsvorschläge im Parlament sorgte.
Massenproteste gegen den einflussreichen Oligarchen
Dieser vierte Partner war die Formation „DPS - Neuer Anfang“ des stark verhassten Oligarchen Deljan Peevski. Peevski, der mit einer Reihe spektakulärer, aber zweifelhafter Geschäfte in den Bereichen Energie, Handel und Medien bekannt wurde, versuchte immer wieder, direkten Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen. 2013 hatte die Empörung über seine Brutalität und Skrupellosigkeit monatelange Massenproteste ausgelöst.
Mit der Zeit wurde Peevski, zu Recht oder Unrecht, zum Symbol für die Verflechtung von Wirtschaft und Politik in Bulgarien. Von den USA wegen Korruption nach dem globalen Magnitsky-Gesetz sanktioniert, gelang es ihm im letzten Jahr, die Partei der bulgarischen Türken, DPS, zu übernehmen und die Kontrolle über Abgeordnete verschiedener anderer politischer Kräfte zu erlangen. Es herrschte die allgemeine Überzeugung, Peevski lenke das Schicksal der bulgarischen Regierung und Politiker*innen vieler Parteien dank seiner Einflussmöglichkeiten in der Justiz, den Geheimdiensten und den Medien in Abhängigkeit und Angst halte.
Der Anlass für die neuen Proteste in Bulgarien war der Entwurf des Staatshaushalts für 2026. Die Haushaltsberatungen wurden von allen, von Wirtschaftsvertreter*innen bis zu den Bürger*innen, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, da es der erste Haushalt nach dem für den 1. Januar 2026 geplanten Beitritt zur Eurozone sein sollte. Die Befürchtungen vor einem schlecht organisierten Übergang zum Euro, Spekulationen und einem neuen Inflationssprung waren allgegenwärtig.
Haushaltsentwurf schürte Ängste
Der Entwurf schürte die Ängste zusätzlich durch die geplante Erhöhung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. Am skandalösesten war jedoch die Art und Weise, wie die Regierung versuchte, den Haushalt durchzusetzen. Alle Vorschläge für Korrekturen wurden arrogant abgelehnt. Die Ideen anderer Parteien wurden nicht einmal diskutiert. Das Kabinett umging zum ersten Mal die Konsultationen mit Arbeitgebern und Gewerkschaften.
Das Prinzip „Wir machen, was wir wollen, weil wir an der Macht sind“ ist in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Instabilität und geringen Vertrauens in die Exekutive ein völlig falscher Ansatz. Viele erkannten darin die Gangart von Deljan Peevski – keine Zugeständnisse, alleinige Entscheidungen, völlige Ignoranz gegenüber der öffentlichen Meinung.
Die oppositionelle liberale Koalition „Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien“ organisierte am 26. November eine unerwartet große Protestkundgebung gegen den Haushalt. Am nächsten Tag wurde der Entwurf zur Überarbeitung zurückgezogen. Aber der Geist war bereits aus der Flasche. Am 1. Dezember kam es zu einer noch größeren Kundgebung, bei der bereits der Rücktritt der Regierung und eine Änderung des korrupten Regierungsmodells gefordert wurden. Und am 10. Dezember überströmte die dritte Protestkundgebung buchstäblich die Straßen und Plätze von Sofia und Dutzenden anderen Städten des Landes. Die Lage wurde unhaltbar und die Regierung musste zurücktreten.
Breite Unterstützung für die Proteste
Die drei großen Proteste in Bulgarien waren keine parteilichen Aktionen. Obwohl sie von der liberalen Opposition organisiert wurden, die versuchte, die Slogans und Botschaften zu kanalisieren, gingen sie weit über deren Rahmen hinaus. Sowohl proeuropäische Bürger*innen als auch überzeugte Nationalist*innen, Vertreter*innen der Wirtschaft und der Gewerkschaften, Linke und Rechte beteiligten sich daran.
Als sich die Proteste noch gegen den Haushalt richteten, sprachen Analytiker*innen von einer „Reaktion der Mittelschicht” auf die falsche Politik der Regierung. Als sich die Wut jedoch gegen das gesamte politische Modell richtete, wurde immer häufiger von einem „Protest der Generation Z“ gesprochen.
Auf den Plätzen waren natürlich nicht nur junge Menschen, aber diese schienen im Vordergrund zu stehen. Die Medien zeigen eine Generation, die nicht nur im Internet, sondern auch in sozialen Netzwerken sozialisiert war. Sie ist bereit, kollektive Aktionen außergewöhnlich schnell zu organisieren. Sie zeigt sich tolerant gegenüber Demonstrant*innen mit anderen Positionen, fernab der politischen Distanz der Millennials und gleichzeitig bereit, klar zu erklären, was ihr nicht gefällt, und dies mit Videos und Memes eindrucksvoll der ganzen Welt zu präsentieren.
Die regierenden Parteien wirken wie erstarrt
Die bulgarischen Proteste entwickelten innerhalb weniger Tage ihren eigenen Stil. Die Protestant*innen hielten die Taschenlampen ihrer Smartphones hoch, um für die Aufdeckung von Korruption zu streiten, sie zeigten Bilder von Schweinen, um auf die politische Führung anzuspielen. Vor dem Hintergrund der kreativen Proteste wirkten die regierenden Parteien wie erstarrt in einer fernen analogen Welt. Kurz gesagt, sie wirkten hoffnungslos veraltet.
Doch der Rücktritt des Kabinetts von Scheljaskow hat dem losgelösten Prozess kein Ende gesetzt. Was als Nächstes kommt, ist offen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es im März vorgezogene Neuwahlen geben. Die Partei „Wir setzen den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien“ (PP-DB) hofft, die enorme Protestenergie zu ihrem Vorteil nutzen zu können, übersieht dabei jedoch, dass sehr viele Demonstrant*innen zwar dank ihr auf die Straße gingen (weil sie zum Beispiel für die Beschallungstechnik sorgte), aber nicht wegen der PP-DB an sich.
Der Politiker mit dem höchsten Ansehen in Bulgarien ist Präsident Rumen Radew, bekannt für seine systematische Kritik am Regierungsmodell. Man vermutet, er wolle eine eigene politische Partei gründen, um die Unzufriedenheit unter seinem Banner zu vereinen. Weder die GERB von Bojko Borissow, noch „DPS - Neuer Anfang“ von Deljan Peevski sind geschwächt, und ihr öffentlicher und nicht öffentlicher Einfluss geben keinen Anlass, sie aus der politischen Arithmetik zu streichen.
Wird die Generation Z politisch instrumentalisiert?
Auch die bulgarischen Nationalist*innen, die sich den Kampf gegen die Eurozone auf die Fahne geschrieben haben, hegen Hoffnungen auf eine Revanche. Von allen Seiten ertönen Warnungen, dass die Generation Z getäuscht und für die Interessen anderer politisch instrumentalisiert werden könnte.
Auch wenn die jungen Demonstrant*innen keine Erfahrung und keine positive Plattform haben, sind sie doch die Zukunft der bulgarischen Politik. Ihre Praktiken des kollektiven Handelns werden sich immer mehr durchsetzen. Ihre Agenda wird immer mehr in den Vordergrund treten. Der Widerstand gegen das von Borisov und Peevski verkörperte Modell wird vom zurückgetretenen Premierminister Scheljaskow völlig zu Unrecht als „Protest für Werte” bezeichnet.
Wirtschaftliche Unsicherheit, Inflation, eine ungewisse Zukunft und administratives Chaos könnten sehr bald den Weg für andere, soziale Themen ebnen. Die Bulgarische Sozialistische Partei, die in das Kabinett Scheljaskow einzog, um den endlosen Kreislauf vorzeitiger Neuwahlen zu beenden und das Land zu stabilisieren, muss sich bewusst sein, dass die nächsten Monate in Bulgarien von sozialer Verunsicherung geprägt sein werden. Genau diese Unruhe steht im Mittelpunkt der Generation Z in anderen Teilen der Welt. Die Frage, ob die Sozialist*innen eine gemeinsame Sprache mit den jungen Menschen finden werden, ist entscheidend für die Zukunft.
ist Assistenzprofessor in Politikwissenschaft an der Universität St. Kliment Ohridski in Sofia, Bulgarien.