Ildiko und Nomi, die Kinder in dem Buch "Tauben fliegen auf", spüren dass ihr Vater bei der jugoslawischen Verwandtschaft mit seiner Anti-Tito-Haltung teilweise auf Granit beißt. Dabei sollte
es eine harmonische Feier werden, die Hochzeit auf dem Dorfe, zu der sie von der Schweiz aus anreisten. Ihr Vater mochte ja Recht haben damit, dass sie den richtigen Weg gegangen sind, als sie
ihr Heimatland Jugoslawien verließen und in die Schweiz zogen. Aber sie wollen bei zeitweiser Heimkehr alles vorfinden, wie sie es verließen. Ihre Großmutter, die in der Heimat gebliebene Mamika,
ist der Fluchtpunkt, zu dem es alle zurückzieht. Sie, die Ungarin im Serbischen, sichert die Kontinuität.
Politik und Verwandtschaft
Der Vater der beiden Mädchen Ildiko und Nomi hadert mit dem Vergangenen. Er hofft nach Titos Tod auf einen Neuanfang seines heimatlichen Landes. Die Sorgen einiger Verwandten, nach Titos
Tod könne es zu Unruhen, ja, zu einem Krieg kommen, versteht er nicht. Fast scheint eine Prügelei unter den betrunkenen männlichen Hochzeitsgästen auszubrechen. Doch im nächsten Moment liegen
sich Onkel Moricz und Miklos Kocsis, der Vater der Mädchen, in den Armen.
Arroganz und Chevrolet
In einem großen Auto sind sie gekommen und in feinen Kleidern. Ildiko und Nomi verstehen nichts davon, eine Girlande aus Krepppapier zu basteln und ein Hochzeitszelt festlich herzurichten.
Sie finden das auch albern, bestaunen dann aber doch das Resultat. Trotzdem: Sie fühlen sich schon als etwas Besseres, die feinen Schweizerinnen in dem ungarisch-serbischen Dorf, in der
Vojvodina. In den Sequenzen der Erinnerung allerdings wird deutlich, dass dies auch Ausweis eigener, in der Schweiz erlittener, Demütigungen ist.
Mühsal des Aufstiegs
Die Familie Kocsis hat es geschafft in der Schweiz: Sie führen ein Unternehmen, eine feine Cafeteria. Angestellte arbeiten für sie. Die Schweiz ist die Heimat geworden. Und ist es doch
nicht. Das Fremdsein. Das Unbehaustsein. Die Herablassung der Hilfe. Das Zerrissene ihrer Existenz.
Das Buch führt ins Heute hinein, in dem die Wunden sich längst nicht geschlossen haben.
Und, wenn Dalibor, der aus dem Bürgerkrieg geflohene neue Freund der erwachsen gewordenen Ich-Erzählerin Ildiko sagt, dass es "den nackten Wahnsinn des Krieges" bedeute, ein ganzes Land nach Ethnien aufzuteilen, so berührt das Fragen der ganzen Welt. Dalibor stellt schließlich auch die Frage, warum sich "die demokratischen, westeuropäischen Politiker, die diese Aufteilungen zulassen, … mit den kriegstreiberischen Nationalisten an einen Tisch setzen …, warum nicht mit den oppositionellen, die die demokratischen Werte suchen".
Dalibor ist selbst aus Kroatien stammender Serbe. Ildiko weiß ihm nichts zu entgegnen. Sie gehört selbst diesem Westen an. Ihr Vater hat jeden der Schritte des Westens begeistert begrüßt, weil er darin den Weg zur Freiheit sah. Und außerdem erfährt sie in der Schweiz die Schwierigkeit des Lebens von Neuankömmlingen aus anderen Ethnien, aber auch das Beharren der schon ein wenig länger anwesenden ehemaligen Neuankömmlinge auf dem erreichten Vorsprung. Das, worüber in diesem Buch geschrieben wird, ist Stoff, der uns noch lange beschäftigen wird. Die Autorin stammt selbst aus Serbien und ist nun Schweizerin.
Das Werk der 1968 im serbischen Becsej geborenen Schriftstellerin und Musikerin Melinda Nadj Abonji wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet - wie auch ihr Debüt "Im Schaufenster im
Frühling" schon Anerkennung gefunden hatte.
Melinda Nadj Abonji: "Tauben fliegen auf", Jung und Jung, Salzburg und Wien 2010, 315 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-902497-78-9
ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.