Kultur

Zum Hoffen verdammt

von Susanne Dohrn · 4. Juni 2008

Man könnte es ist eine amour fou nennen. Er 74, verliebt sich in eine 19-jährige. Haltlos, hilflos, hingebungsvoll. Was scheren sich Gefühle über den Altersunterschied? "Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht," analysiert Goethe seinen Seelenzustand. Das alles geschieht vor hochherrschaftlicher Kulisse: 1823 in Marienbad und Karlsbad, wo die Reichen und die Schönen, wo vor allem der Adel, jeden Sommer zu kuren pflegte.

Es ist eine öffentliche Liebe, die Martin Walser in seinem Meisterwerk "Ein liebender Mann" beschreibt. Man flaniert, trifft sich zum Frühstück und zum Tee, soupiert und parliert. Die "Gesellschaft" und deshalb auch unser Liebespaar, lebt in einer Kultur der Andeutungen, des geistreichen Schlagabtauschs, der vorgeblichen Lebensleichtigkeit. Eine zarte Berührung, ein hingehauchter Kuss, mehr nicht. Kein Du, kein miteinander Alleinsein außer auf einem keuschen Spaziergang. Und doch ist es Liebe, unbändig, unglücklich.

Der Onkel als Neffe

Das ist wunderbar zu lesen - besonders für Goethe-Fans, aber nicht nur für die. Wunderbar die leise Ironie, die immer wieder mitschwingt, so wenn Goethe in kluger Selbstdistanz feststellt, heute sei er wieder in die Rolle "der Onkel als Neffe" geschlüpft. Und bös in der Welt der Tatsachen landet, als sein Freund, Mentor und Arbeitgeber Karl-August Herzog von Sachsen-Weimar in Goethes Namen bei Ulrikes Mutter um die Hand der Tochter bittet und gleich auch eine Witwenpension für die Herzallerliebste in die Wagschale wirft.

Auf den Karlsbader Höhenflug - wir ahnen es - folgt die Agonie. Von Eifersucht gepeinigt, zur Hoffnung verdammt lebt der liebende Mann in seinem Haus in Weimar am Frauenplan, doch Ulrike kommt nicht. Sie, die nie geheiratet hat, stirbt im Jahr 1900. Vorher hat sie ihre Kammerzofe angewiesen, ein Päckchen Briefe zu verbrennen. Goethes Briefe. Goethes Briefe? Wir wissen es nicht. Das macht auch nichts. Bei Martin Walser können wir sie lesen.

Susanne Dohrn

Martin Walser: Ein Liebender Mann, Rowohlt Verlag, Reinbek 2008, 284 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 349807363X

Auch als Audio-CD bei Hoffmann und Campe erschienen, gelesen von Martin Walser, 6 CDs mit 8 Seiten Booklet und einem Autoreninterview von Dennis Scheck, 28,95 Euro, ISBN 978-3-455-30584-5

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Susanne Dohrn

ist freie Autorin und ehemalige Chefredakteurin des vorwärts.

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