Kultur

Worüber niemand spricht...

von Birgit Güll · 14. Februar 2011
placeholder

So oft auch erklärt wird, dass selbst die letzten Tabus gebrochen seien, sie sind es nicht. "Darüber spricht man nicht"' "Wenn das die Nachbarn wüssten", nach diesen Vorgaben funktioniert das Verschweigen von Wahrheiten. Menschen, die sich nicht daran halten oder - schlimmer - nicht daran halten wollen, werden ausgegrenzt.

Diese Erfahrung macht die zwölfjährige Chanda in Oliver Schmitz' Film "Geliebtes Leben". Als ihre einjährige Schwester stirbt, wollen sich alle daran halten, dass eine Grippe die Ursache war. So könne niemand mit dem Finger auf die Familie zeigen, schärft die Nachbarin Mrs. Tafa dem kleinen Mädchen ein. Das Dorf nahe Johannesburg, in dem sie leben, ist klein. Jeder kennt jeden, und das Urteil der Nachbarn zählt viel. So wird die übergroße Trauer dafür verantwortlich gemacht, als einige Zeit nach dem Tod des Babys auch Chandas Mutter Lilian erkrankt.

Doch das selbstbewusste Mädchen ist nicht länger bereit, das Spiel mitzuspielen. Chanda weiß, woran die Eltern ihrer Freundin Esther gestorben sind, woran so viele im Township sterben: AIDS. Sie versteht nicht, warum niemand darüber spricht, warum Menschen ausgegrenzt werden. Inständig bittet sie ihre Mutter, zum Arzt zu gehen, doch die weigert sich, hat Angst vor Tratsch und glaubt nicht an Hilfe. Tapfer kümmert Chanda sich um ihre beiden jüngeren Halbgeschwister, deren Vater seit dem Begräbnis des Babys verschwunden ist. Weder in seiner Stammkneipe noch bei seiner Geliebten ist der Trinker zu finden.

Wunderheiler, falsche Ärzte

Die aufdringliche Mrs. Tafa von nebenan hilft zwar dabei, die Kleinen zu versorgen. Die Lügen, die sie über den Zustand von Lilian verbreitet, helfen Chanda dagegen nicht. So wenig wie der falsche Arzt und die Wunderheilerin, die die Nachbarin für die Kranke auftreibt. Vertrauen kann sie nur ihrer Freundin Esther. Die ist seit dem Tod ihrer Eltern eine Außenseiterin im Dorf. Sie verkaufe ihren Körper, heißt es, und bald tut sie, wovon ohnehin alle überzeugt sind und prostituiert sich. Ihrer Freundin Chanda verspricht sie, immer für sie da zu sein.

Zwar will Chanda nichts davon wissen, dass auch sie ausgegrenzt werden könnte, doch die Solidaritätsbekundung stärkt ihr den Rücken. Oliver Schmitz' einfühlsamer Film begleitet das willensstarke Mädchen dabei, wie es sich entschließt, das Verschweigen der Wahrheit nicht länger zu ertragen. Als Lilian nur einen Weg sieht, ihre Kinder zu schützen und sie verlässt, hat Chanda endgültig genug von den Lügen, will nicht mehr hören, dass die Krankheit Lilians eine Strafe Gottes sei. Sie holt die Mutter nach Hause und konfrontiert die Dorfgemeinschaft so mit ihrer schlimmsten Angst.

Intensive Nähe zur Realität

"Sie stellt Fragen und erwartet Antworten", sagt Schauspielerin Khomotso Manyaka über die von ihr verkörperte Chanda. Die 1996 Geborene stand für die Rolle zum ersten Mal vor der Kamera. Für das absolut eindrucksvolle Debüt wurde sie beim afrikanischen Durban International Film Festival 2010 als "Beste Hauptdarstellerin" ausgezeichnet. Gedreht wurde die deutsch-südafrikanische Co-Produktion "Geliebtes Leben", die auf Allan Strattons Buch "Worüber keiner spricht" basiert, an Originalschauplätzen im Township Elandsdoorm, nicht im Studio. In den engen Privathäusern folgt das Team mit Handkameras den Bewegungen der Darsteller. Diese Nähe sorgt für Intensität, genau wie die Sprache, der lokale Dialekt Sepedi.

Die ist auch für den aus Südafrika stammenden Regisseur Schmitz, der hierzulande vor allem durch seine preisgekrönten TV-Serien "Türkisch für Anfänger" und "Doctor's Diary" bekannt ist, eine Fremdsprache. Doch er setzt auf Realität. Denn "Geliebtes Leben" ist kein Elendsmärchen aus den afrikanischen Slums, kein Moralstück mit erhobenem Zeigefinger. Es ist eine eindringliche Geschichte über Tabus in der Gesellschaft, übers Erwachsenwerden und über Courage. Beim Filmfestival in Cannes wurde "Geliebtes Leben" mit dem "Prix François Chalais" ausgezeichnet, beim Durban Festival als "Bester afrikanischer Spielfilm". Ab 5. Mai ist er im Kino zu sehen.

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare