Wofür stand Willy Brandt? Wer Willy Brandt über mehr als zwei Jahrzehnte begleitet, ihn in unzähligen Sitzungen des Kabinetts, des Präsidiums oder des Vorstands der SPD, aber auch bei Festen
oder Wanderungen erlebt hat, beneidet niemanden, der sich vorgenommen hat, in einer Biografie dem "richtigen" Brandt auf die Spur zu kommen. Dazu war Willy Brandt zu vielschichtig. Auch wer ihn
zu kennen glaubte, wurde immer wieder überrascht.
Helga Grebing, nach der unvergessenen Susanne Miller die zweite bedeutende Historikerin der Sozialdemokratie, ist daher bescheidener. "Als Biograf sollte man darauf verzichten, irgendeinen
'eigentlichen' Willy Brandt zu kennen." Helga Grebing geht es in ihrem neuen Buch "Wi1ly Brandt - der andere Deutsche" nicht um Psychologie, sondern um Politik. Genauer: Um Brandis politische
Überzeugungen, ihm Entstehung, ihre Veränderung, aber auch ihre Kontinuität. Über den Menschen Willy Brandt ist schon viel Kluges geschrieben worden: Über seinen behutsamen Umgang mit Freunden
und Mitarbeitern, über sein ansteckendes Lachen und seine depressiven Phasen, über seinen Realitätssinn und seinen Humor. Helga Grebing - und das ist gerade jetzt nötig - will wissen, wofür er
stand.
"Ich werde große Enttäuschungen erleben"
Deshalb kommt in ihrem Buch Brandt ausgiebig selbst zu Wort. Da ist der Patriot, der so anders ist als das, was sich die Deutschen lange Zeit unter einem Patrioten vorgestellt hatten. Das
zeigen schon seine Briefe, als er aus Norwegen in die deutsche Politik zurückkehrt. Etwa an den schwedischen Ökonomen und Sozialdemokraten Gunnar Myrdal. "Du sollst wissen, dass ich eigentlich
keine Illusionen habe. Aber ich will versuchen, dabei zu helfen, dass Deutschland nach Europa zurückgeführt wird ..." Oder an den ungarisch-schwedischen Politologen, sozialistischen Politiker,
Journalisten und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Stefan Szende: "Ich werde nicht nur große Enttäuschungen erleben, sondern vielleicht auch die große Niederlage meines Lebens.
Aber wenn es so weit kommen sollte, möchte ich der Niederlage mit dem Gefühl begegnen können, meine Pflicht getan zu haben."
Wer heute den öden Karrierismus mancher Jüngeren beklagt, findet hier einen politischen Menschen, der um seiner politischen Überzeugung willen Deutschland verlassen hat und dann
wiederkehrt, um Deutschland nach Europa zurückzuführen, wohl wissend, dass er dabei scheitern kann. Er hat Enttäuschungen erlebt, schlimme Verletzungen, aber gescheitert ist er nicht. Deutschland
ist europäischer geworden. Auch durch ihn.
Verhältnis zum Kommunismus
Bei Helga Grebing wird fündig, wer Brandts Verhältnis zum Kommunismus genauer kennen lernen will, von der skeptischen Sympathie des Jungen über die Ernüchterung im spanischen Bürgerkrieg
und die Abwendung nach dem Hitler-Stalin-Pakt bis zur schroffen Gegenposition nach dem Prager Putsch 1948: "Wenn das, was sich jetzt in Prag abspielt, Sozialismus verkörpern sollte, dann haben
wir mit diesem Sozialismus nichts mehr zu tun."
Für Willy Brandt waren Sozialdemokratie und demokratischer Sozialismus dasselbe, nämlich zu Ende gedachte und weiter geführte Demokratie. Wer wissen will, was für Sozialdemokraten Freiheit
bedeutet, kann es in Grebings Buch nachlesen.
Brandt wusste, was zusammengehört. Er hat die deutsche Einheit nie aufgegeben. Nicht die Hoffnung auf Einheit hat er als "Lebenslüge der fünfziger Jahre" abgetan, sondern die Sonntagsreden
von der Einheit, während "an den restlichen sechs Wochentagen den westlichen Interessen der Bundesrepublik Rechnung getragen" wird.
In einer Zeit, in der es Mode geworden ist, sich auf den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler zu berufen, zeigt Helga Grebing, was diesen deutschen Europäer umgetrieben und angetrieben
hat. Und all das ist höchst aktuell.
Helga Grebing, "Willy Brandt. Der andere Deutsche", Wilhelm Fink Verlag 2008, 182 Seiten, 19.90 Euro, ISBN: 978-3-7705-4710-4
Erhard Eppler war von 1968 bis 1974 Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, und von 1973 bis 1992 Vorsitzender der Grundwertekommission. Zuletzt erschien von ihm:
Eine Partei für das zweite Jahrzehnt: die SPD? vorwärts buch, Berlin 2008, 96 Seiten, 9,95 Euro, ISBN-Nr. 978-3-86602-175-4
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