Kultur

Wir sind die Stadt

von ohne Autor · 3. Mai 2012

Ein Gewimmel von Häusern und Menschen, anziehend und verstörend zugleich: „Medianeras“ ist mehr als eine Hommage an das rätselhafte Buenos Aires: Der argentinische Regisseur Gustavo Taretto fragt nach der Seelenverwandtschaft von Städten und Städtern. 

Ein Haus, ein Gesicht: Wer schon immer meinte, hinter Fassaden so etwas wie eine Seele zu entdecken, kann sich in „Medianeras“ getrost seinen Fantasien hingeben. Ob Luxusturm, Wohnsilo oder Belle Époque: Taretto schneidet Dinge gegeneinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Umso irritierender ist die fast schon versöhnliche Wirkung, die dieses Chaos der Kontraste in seiner Gesamtheit erzeugt – am Ende scheint irgendetwas das Durcheinander zusammenzuhalten.

Mariana und Martin sind darin zuhause. Die Architektin und der Webdesigner wohnen im selben Block, sind sich aber noch nie begegnet. Mariana hat sich gerade von ihrem Freund getrennt. Um über die Runden zu kommen, dekoriert sie Schaufenster. Unfähig, in engen Kontakt mit ihren Mitmenschen zu treten, redet sie mit den Schaufensterpuppen, die sie zwischen unausgepackten Umzugskartons liebevoll wäscht und ankleidet: Gerade dadurch wirkt ihre Bleibe wie ein perfektes Sinnbild des Unsteten – Mariana hat sich darin prächtig eingerichtet.

Leben wie im Wimmelbuch

Geistige Erbauung findet Mariana in dem Wimmelbilderbuch „Wo ist Walter?“ – es ähnelt den in Deutschland beliebten XXL-Bilderbüchern von Ali Mitgutsch. Jenen Walter gilt es inmitten einer Menschenmenge an verschiedenen Orten auszumachen. Seit sie 14 ist, hat Mariana die Figur auf jenem Bild entdeckt, nur nicht im Stadt-Motiv. So fühlt auch sie sich immer mehr wie jemand, der unter all den anderen übersehen wird. Keine guten Voraussetzungen, um das passende Gegenstück für einen Neuanfang zu finden!

Auch Martin, mit 29 Jahren ähnlichen Alters, kommt ziemlich verloren daher. Seine Freundin ist aus dem gemeinsamen Leben ausgebrochen. Was ihm bleibt, ist der Terrier Susú. Ansonsten ist seine Umgebung eher virtuell. Ob Projekte, Abendessen oder Pornos: Arbeit und Freizeit lassen sich prima im Internet abwickeln. Zwei Flachbildschirme und mit Büchern und Action-Figuren vollgestopfte Regale prägen das Ambiente seiner Einzimmerwohnung. Martins Phobien tun das Übrige, sich darin tagelang zu verbarrikadieren. 

Keine Sorge, „Medianeras“ ist alles andere als ein weinerliches Lehrstück über die Tristesse der Metropolen oder unreife Akademiker, die nicht in ihr Leben finden. Ebenso wenig kann von einem romantischen Großstadtmärchen die Rede sein – wohl aber von einem poetischen Blick auf gelebte Ver(w)irrung.

Taretto, Jahrgang 1965, fragt , inwiefern Städte, die wir erschaffen, uns ähnlich sind. Zugleich zeigt er, was es heißt, in einer digital vernetzten Welt und zwischen Millionen von anderen Großstädtern einsam zu sein. Und warum Orte wie Argentiniens Hauptstadt, die all das bündeln, suspekt und verlockend zugleich sind. Schließlich schreitet die weltweite Verstädterung, wenn auch weniger aus hedonistischen Gründen, voran: Im Jahr 2007 lebten erstmals mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Derlei Hintergründe kommen hier allerdings eher am Rande zum Tragen.

Chaos trifft auf Chaos

Aus all dem formt Taretto eine melancholisch-Geschichte um zwei Menschen. Indem das innere Chaos von Mariana und Martin auf das undurchdringliche Gewusel ihrer Umgebung trifft, entsteht die Dynamik dieses Films. Immer wieder versuchen die beiden, sich auf neue Bindungen einzulassen. Kaum haben sie sich mit einem Zufallstreffer beschnuppert, beginnt es zu haken. Dann hilft nur noch Ersatzbefriedigung. Das Fragmentarische in ihrem Leben deckt sich mit dem Wesen der Erzählweise: „Medianeras“ basiert auf Tarettos Kurzfilm gleichen Titels, der ihm internationale Beachtung einbrachte.

Dass sich zwischen den Protagonisten eine Liebesgeschichte entwickelt, mag zu erahnen sein. Taretto führt das Duo allerdings denkbar behutsam zusammen, anstatt mit der allgegenwärtigen Zufälligkeit zu brechen. Mit Leichtigkeit spielt der Regisseur mit dem Trennenden und Verbindenden im Leben von Martin und Mariana – etwa, wenn er am späten Abend leeren Blickes in jenes Schaufenster glotzt, das sie zuvor verschönert hat. Der Moment, in dem sie sich zum ersten Mal in die Augen schauen, liegt da noch in weiter Ferne.

Der Reiz der Lücke

Dieses Doppelwesen der menschlichen Beziehungen spiegelt sich schließlich auch in der Architektur wider, ohne die die eigentümliche Szenerie undenkbar wäre: Brand- oder Trennwände, so die wörtliche Übersetzung für „Medianeras“, werden sichtbar, wenn ein Haus in einer Zeile abgerissen wird: Auch sie trennen oder verbinden, je nach Sichtweise, das, was dazwischen liegt.

In Großstädten werden sie häufig mit Graffiti oder Werbung verziert – so eben auch im alltäglichen Blickfeld von Mariana und Martin. Man muss nicht komplett am zeitgenössichen Hang zum Waben-Dasein verzweifeln, um sich in ihnen wiederzufinden.

Info:

Medianeras (Argentinien / Deutschland / Spanien 2011), ein Film von Gustavo Taretto, mit Pilar López de Ayala, Javier Drolas u.a., OmU, 95 Minuten.

Kinostart: 3. Mai

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