Kultur

„Wir sind alle herausgefordert“

von ohne Autor · 18. November 2008
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Intensiv hat Scheffer sich mit dem Thema Migration, mit ihrer Geschichte und all ihren Facetten, auseinandergesetzt. Integration, so der Wissenschaftler, beginne immer mit einer Erfahrung von Verlust und Entfremdung: Die Einwanderer - die in der Regel nicht aus freien Stücken ihr Land verlassen - klammern sich in dieser Situation an Gewohnheiten aus ihrer Heimat. Das Gefühl, etwas verloren zu haben, erleben auch die "Alteingesessenen", deren Umgebung sich durch die Migranten verändert, erläuterte Scheffer in der FES.

"Integrieren worin?"
Wie hoch dürfen die Minarette einer Moschee sein? Dürfen Mädchen an deutschen Schulen Kopftüchern tragen? Fragen wie diese lösen hierzulande in regelmäßigen Abständen heftige, und vor allem emotional geführte Debatten aus. Die Fronten scheinen verhärtet, sperrige Begriffe wie "Migrationshintergrund" machen das Gespräch nicht einfacher. Was bleibt, ist die Aufforderung zur Integration an jene, die dazugekommen sind. Aber wie weit kann oder muss sie gehen?

Paul Scheffer erweitert den Blickwinkel: "Integrieren worin?", fragt er. Die floskelhaft wiederholte Aufforderung nach Eingliederung in die Gesellschaft, so der Autor, wirft die Frage auf, was diese überhaupt ist. Leben wir die Ideale, die wir von anderen fordern?

Selbstreflexion
Die ganze Gesellschaft sei herausgefordert, über sich selbst und ihre Institutionen nachzudenken, unterstreicht der Autor: Wie sieht es beispielsweise mit der Glaubensfreiheit in Europa aus? Kruzifixe in Klassenzimmern, die deutsche Kirchensteuer und konfessionelle Schulen kennzeichneten wohl kaum einen säkularen Staat, der letztlich das Fundament von Glaubensfreiheit sei. Können wir von Muslimen etwas fordern, was wir selbst nicht erfüllen? Und genau hier biete sich, so Scheffer, eine Chance: Wir können die nötige Säkularisierung in Europa vollenden.

Auf diese Weise kann sich eine Gesellschaft erneuern. In diesem Sinne sei die Anwesenheit von Migranten eine permanente Einladung zur Selbstreflexion. "Wir sind alle herausgefordert", betont Scheffer. Letztlich sei der Andrang von außen nötig für eine offene Gesellschaft. Die Konflikte, die wir derzeit in Europa erleben, wertet Scheffer als Beginn einer Diskussion über gegenseitige Vorurteile - eine nötige Phase im Findungsprozess einer Integrationsform, die beide Seiten verpflichtet.

Zeit und Nachdruck
Denn bei aller Unterschiedlichkeit seien wir letztlich voneinander abhängig. "Das Recht des Einen ist die Pflicht des Anderen." - Von diesem simplen Grundsatz der Gleichbehandlung ausgehend, gelte es gemeinsam zu Handeln, eine gemeinsame Geschichte zu schaffen. "Integration braucht Zeit, aber auch Nachdruck", ist der Autor sicher.

"Ja, ja, ja!", war Seyran Ates in der FES begeistert. Jeden Satz des Buches habe sie mit Genuss gelesen. Sie bezeichnete es als Standardwerk für all jene, die mit dem Thema Migration zu tun haben. Es helfe dabei, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen - und zwar ohne Schuldzuweisungen. Auch Lale Akgün wertete das Buch als einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte: Die vordringliche Aufgabe sei es, Regeln vorzugeben dabei aber Vielfalt zu akzeptieren und zu organisieren. Zu lange habe man versucht, Biegungen zu machen, unterstrich Akgün: "Der Rechtsstaat ist für alle verbindlich".

Paul Scheffers Buch ist ein optimistischer Beitrag zum Thema Massenmigration. Vor allem aber ist es eine Aufforderung an alle. Schließlich hat es noch nie funktioniert, lediglich von anderen etwas zu einzufordern, selbst aber untätig zu bleiben. Und letztlich ist eine Gesellschaft kein starres System. In diesem Sinne wird es Zeit, sich zu bewegen.


Paul Scheffer: "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Gesellschaft", Hanser Verlag, München, 2008, 536 Seiten, 24, 90 Euro, ISBN 978-3-446-23080-4



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