Wie ein Tunnel das Leben in Dänemark auf den Kopf stellt
Iris Janke/Komplizenfilm
Viele, die es während der Werdejahre in die Ferne zieht, suchen irgendwann wieder die Nähe der Stätten ihrer Kindheit. Mitunter scheint es, als würden diese Orte (wieder) von ihnen Besitz ergreifen. Wenn dort dramatische Veränderungen bevorstehen, kann die Anziehungskraft noch größer sein. Das Wiederentdecken einer Gegend, die man eigentlich hinter sich gelassen haben wollte, kann natürlich auch berufliche Gründe haben.
Im Falle von Dara und der dänischen Insel Lolland kommt all das zusammen. In ein paar Jahren soll von dort ein Tunnel auf die deutsche Ferieninsel Fehmarn führen. Kritiker befürchten massive Umweltbelastungen durch das Mammutprojekt. Unbestritten ist, dass die neue Verbindung, die die Fähren ersetzen wird, diesen eher verschlafenen Teil des Königreichs ordentlich durchschütteln wird. Manch einer träumt von einer neuen Boom-Region, wenn die wichtige Handelsroute von Mitteleuropa nach Skandinavien ganz andere Kapazitäten schlucken kann.
Für Regisseurin Anna Sofie Hartmann war dies der entscheidende Grund, sich nach „Limbo“ (2014) erneut dem Landstrich ihrer Kindheit zuzuwenden. Ihre Protagonistin Dara beschäftigt sich mit den Menschen und ihren Häusern, die dem Tunnel werden weichen müssen. Erste Arbeiten zur Vorbereitung der Baustelle sind angelaufen. Zuvor wurden reihenweise Grundstücke enteignet. Die dortigen Gebäude werden demnächst abgerissen. Die Ethnologin ist gekommen, um sie zu dokumentieren. Dabei hört sie sich auch die Geschichten der Bewohner an, die auf ganz unterschiedliche Weise dem verordneten Neuanfang an anderem Ort entgegensehen.
Ein anderes Leben
Zur einschneidenden Erfahrung werden die Entdeckungen in einem leerstehenden Haus. Stück für Stück entschlüsselt die Enddreißigerin die Geschichte der einstigen Bewohnerin Agnes, die dort vor Jahrzehnten eine neue Heimat gefunden hatte. Irgendwann verschwand sie einfach. Je mehr sich Dara, die (wie auch die Regisseurin) in Berlin lebt und nur für diesen Sommer nach Dänemark zurückgekehrt ist, mit dieser Frau beschäftigt, desto mehr scheint sie sich mit ihr zu identifizieren.
Die stets etwas verpeilte, aber dennoch den Menschen sehr zugewandte Dara ist so etwas wie ein Türöffner zum großen Ganzen, aber keinesfalls das Zentrum des Films. Regisseurin Anne Sofie Hartmann verdichtet in dieser ländlichen Gegend Prozesse, die für den globalisierten Kapitalismus typisch sind. Etwa, dass von ökonomischen Interessen geleitete Großprojekte vermeintlich abgelegene Räume erobern. Deren Bewohner haben dabei, wie auf Lolland, meist das Nachsehen.
Menschen ziehen der Arbeit und der damit verbundenen Aussicht auf Wohlstand hinterher. Verschiedenste Individuen treffen an diesen Hotspots aufeinander und verlieren sich kurz darauf wieder aus den Augen. Geteilte Erfahrungen und Gefühle verbinden sich zu etwas Neuem und Fragmentarischen.
Gleichwohl lässt sich sagen dass bei Dara sämtliche Fäden zusammenlaufen. Sie trifft bei ihren Streifzügen durch den altbekannten Fährhafen Rödby nicht nur „Verlierer“, sondern auch jene Menschen, die sich von dem Tunnel ein besseres Leben erhoffen. Die aus Polen angereisten Arbeiter tragen dazu bei, die Pläne von Politikern, Architekten und Wirtschaftseliten umzusetzen. Nach Feierabend bleiben sie meist „unsichtbar“. Darin ist ein Fingerzeig auf den Umgang der dänischen Gesellschaft mit den Arbeitsmigranten zu sehen. Es sieht nicht so aus, als würden sich die Hoffnungen der Polen erfüllen.
Unverhoffte Verbindungen
In „Giraffe“ sind nicht nur unverhoffte und intensive Verbindungen fragil, sondern auch scheinbare Gewissheiten und Träume. In den in langen Einstellungen festgehaltenen Bildern eines dänischen Sommers bleibt vieles unausgesprochen und doch fügt sich alles zu einem Ganzen. Am (sozialen) Realismus orientierte, in natürlichem Licht eingefangen Szenen werden in den Momenten, wo Dara in Agnes' Vergangenheit eintaucht und darin womöglich ihre eigene, von Unentschiedenheit geprägte Gegenwart erkennt, mit dem Fokus auf das Unterbewusste kontrastiert.
Im langsamen Fluss erzählt der Film davon, wie es Menschen ergeht, die den Verheißungen von Großprojekten folgen und wie ein Zootier aus der afrikanischen Savanne dorthin verpflanzt werden. Vielen von dem, was Hartmann, auch im Rahmen einer Liebesgeschichte, zusammenführt, verliert sich am Ende wieder. Darin liegt der realistische Kern dieses Blicks auf verschlungene Lebenswege im Zeichen von zeittypischen Unsicherheiten.
Manch einem könnte es bei der Handlung an Stringenz und Vollendung fehlen. Die Hauptdarsteller Lisa Loven Kongsli (Dara) oder auch Jakub Gierszał (Bauarbeiter) und Maren Eggert (Verkäuferin auf der Fähre) bringen ihre Figuren in diesem etwas spröden Rahmen, der das Vorläufige und Ungewisse dieser Situation unterstreicht, allerdings umso mehr zum Leuchten.
„Giraffe“ (Dänemark/Deutschland 2019), ein Film von Anna Sofie Hartmann, mit Lisa Loven Kongsli, Jakub Gierszał, Maren Eggert u.a, 87 Minuten. Jetzt im Kino