Kultur

Wie die erste „documenta“ von den Nazis verfemte Künstler ehrte

Am 18. September 1955 endete die erste „documenta“ in Kassel. Die Schau mit Künstler*innen, die von den Nazis verfolgt worden waren, wurde zu einem riesigen Erfolg. Einen großen Anteil daran hatte ein Sozialdemokrat.

von Klaus Wettig · 18. September 2025
Schwarz-weiß-Aufnahme von der ersten documenta mit Arnold Bode und Theodor Heuss vor einem Gemälde von Picasso

Die treibende Kraft in der ersten „documenta“: Arnold Bode (l.) mit Bundespräsident Theodor Heuss

Als die „documenta“ am 18. September 1955 nach 100 Tagen endete, konnten die Organisator*innen nicht nur einen Besucherrekord für eine Ausstellung „moderner Kunst“ feststellen. Immerhin hatten 130.000 Besucher*innen den Weg nach Kassel gefunden, damals nicht gerade als Magnet für Kunstausstellungen bekannt. Nur kunsthistorisch Bewanderte wussten, dass Kassel vor dem Zweiten Weltkrieg eine von den hessischen Landgrafen begründete bedeutende Sammlung barocker Malerei besaß.

Wegen der außerordentlichen Zerstörungen durch den Bombenkrieg, denn Kassel war als Rüstungsschmiede ein zentraler Ort für die Angriffe der Alliierten gewesen, war diese Sammlung noch nicht zugänglich, der historische Ort, das „Fridericianum“, war zerstört, nur die Außenmauern standen noch.

Auf einen Erfolg gehofft, die überwältigende Zustimmung nicht erwartet

Dass die „documenta“ ein Erfolg werden würde, darauf hatten die Organisator*innen gehofft. Nicht erwartet hatten sie die überwältigende Zustimmung zu dieser Präsentation der modernen bildenden Kunst, genauer der schon „klassischen Moderne“, die sich in der Besucher*innenzahl und im Presseecho ausdrückte. 

Tatsächlich zeigte die „documenta“ die aus Deutschland nach 1933 von den Nazis zu Billigpreisen verkaufte und zerstörte Kunst. Ab 1937 war diese Kunst in der Ausstellung „Entarte Kunst“ vielerorts in diffamierender Absicht gezeigt worden, eingeleitet von einer Hitler-Rede, die vor der Bedrohung von Leib und Leben der Künstler*innen nicht zurückschreckte. Zahlreiche Künstler*innen waren vor diesem Angriff aus Deutschland geflohen, nur wenige konnten in die innere Emigration ausweichen. Die Werke verschwanden aus den Museen, wurden im Ausland verkauft; sie selbst mit Ausstellungsverbot belegt.

Die „documenta“ als erster Ort der Begegnung mit verfemten Künstler*innen

Die Kunstpolitik der Nazis und der nachfolgende Zweite Weltkrieg zerstörten nicht nur Künstlerlaufbahnen und beseitigten ihre Werke in deutschen Museen, sie veränderten auch Sehgewohnheiten. Die zwölfjährige Nazizeit und die Kriegszerstörungen der meisten Museen verschleppten die Rückkehr der klassischen Moderne. Es gab keine Sammelausstellungen, schon gar nicht gab es Retrospektiven.

Kassel wurde deshalb zum ersten Ort der Begegnung mit Franz Marc, August Macke, Paul Klee, Lyonel Feininger, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde, Max Beckmann und vielen anderen. Kassel machte deutlich, welchen Schaden der Vernichtungsfeldzug der Nazis der deutschen Kultur zugefügt hatte. Zum ersten Mal sah 1955 die Kriegs- und Nachkriegsgeneration bildende Kunst, die ihnen die Nazizeit verweigert hatte. Dabei zeigte die „documenta“ nur den deutschen Anteil an der klassischen Moderne bis 1933, nicht den internationalen Anteil in seinen weiteren Ausprägungen, die in Nazi-Deutschland verboten waren.

Sozialdemokrat Arnold Bode als prägende Kraft

Die Beschäftigung mit der „documenta“ und ihren Nachfolgern, zunächst 1959 und danach im Fünf-Jahres-Turnus, übersieht regelmäßig die politischen Voraussetzungen für die Kunstschau. Eine zentrale Rolle spielte der Organisator der ersten „documenta“, Arnold Bode. 1912 geboren, hatte er eine Ausbildung für Malerei und Grafik absolviert und danach als Raumgestalter in einem Architekturbüro gearbeitet. Der Moderne in der bildenden Kunst begegnete er 1925 bei einer Frankreichreise. Die Eindrücke von dieser Reise setzte er in den Folgejahren in eigenen Arbeiten und als Organisator von internationalen Kunstausstellungen um. Ab 1930 unterrichtete er am Städtischen Werklehrer-Seminar in Berlin.

Der SPD hatte er sich 1929 angeschlossen. Nach eigener Aussage blieb er Zeit seines Lebens „Sozialdemokrat mit Leib und Seele“. Sein politisches Engagement und seine künstlerischen Auffassungen führten schon zum 1. Mai 1933 zur Entlassung, später erhielt er Berufsverbot, da seine Arbeiten als „entartet“ galten.

Für Arnold Bode war es ein Glücksfall, dass die sozialdemokratische Stadtpolitik in Kassel unter Oberbürgermeister Lauritz Lauritzen nach Ansätzen suchte, die kriegsgezeichnete Stadt wieder zu beleben. Eine Kunstausstellung mit überörtlicher Ausstrahlung konnte dabei nur helfen. Außerdem fühlte sich die SPD der von den Nazis verfolgten Moderne und ihren Künstler*innen verbunden, deren Geschichte war auch ihre Geschichte.

Heute ein Welt-Ausstellungsort der bildenden Kunst

Neben der Stadt Kassel leistete die SPD-geführte hessische Landesregierung eine beachtliche finanzielle Hilfe, ohne diesen Zuschuss wäre die „documenta“ nicht zu schaffen gewesen. Wichtig war dabei der legendäre hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn, der als Kasselaner Landtagsabgeordneter ein besonderes Interesse am Wiederentstehen Kassels hatte.

Die „documenta“ entwickelte sich Schritt für Schritt über ein deutsches Ereignis hinaus. War sie als „documenta I und II“ ein Ort der Wiederbegegnung mit der vertriebenen und vernichteten Moderne, öffnete sie sich 1959 für die Strömungen der Moderne, die die Kunstpolitik der Nazis aus Deutschland ferngehalten hatte. 

Picasso, Matisse und Braque waren zu sehen; die Skulpturen von Henry Moore, Ossip Zadkine und Giacometti. Pop Art, Informel und Environments. Schließlich auch der sozialistische Realismus der DDR mit Heisig, Sitte und Tübke und die Fotografie fand ihren Einzug. Alle fünf Jahre ist nun die „documenta“ ein Welt-Ausstellungsort der bildenden Kunst.

Auch Kassel wurde verwandelt. Jede „documenta“ hinterließ ein Objekt in der Stadt. Am nachhaltigsten wirkte Joseph Beuys mit seinem Projekt „Stadtverwaldung“ mit dem er 5.000 durch Basaltblöcke geschützte Eichen in der Stadt pflanzte. Damit entstand eine „soziale Plastik“ die ganz praktisch auch dem Klima in der Stadt dient.

Autor*in
Klaus Wettig

war von 1975 bis 1976 Politikberater für die sozialistische Partei im revolutionären Portugal. Als Mitglied des Europäischen Parlamentes war er Vorsitzender des Ausschusses für den Beitritt Portugals zur Europäischen Gemeinschaft.

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