Das deutsche Bildungssystem zementiert die soziale Ungleichheit. Das ist der Befund des Sammelbandes „Solidarische Bildung“, herausgegeben vom 2010 gegründeten Institut Solidarische Moderne. So klar die Beschreibung des Status quo ist, so schwer fallen den AutorInnen des Sammelbandes die Beschreibung von Perspektiven.
300 Teilnehmer an einer „Summer Factory“ zum Thema Bildungspolitik, 18 Workshops, ein Sammelband mit 70 Autoren, Berichte höchst unterschiedlichen Niveaus: So präsentieren die Herausgeber die Ergebnisse der ersten „Programmwerkstatt“ des Instituts Solidarische Moderne (www.solidarische-moderne.de) mit Sitz in Berlin.
Deutsche Bildungspolitik zementiert Ungleichheit
Der schwergewichtige Band ist gegliedert in eine Einleitung, zwei Grundlagenbeiträge (Katja Kipping über das neue Institut und Wolfgang Nitsch mit einer bemerkenswerten Retrospektive), ein Kapitel, in dem die „Summer Factory“ im allgemeinen und die Tagung 2010 im besonderen vorgestellt werden, und schließlich die Ergebnisse der einzelnen Arbeitsgruppen. Doch weniger ist manchmal mehr.
An dem Befund ist wenig zu deuteln: Das herrschende Bildungssystem zementiere die Ungleichheit („Bildung macht den Unterschied“), institutionalisiere die soziale Ungleichheit und ignoriere Ungleichheit und Differenz. Aber das hat man alles schon gelesen – zum Beispiel in den bewegten 1960er- und den 1970er-Jahren. Die „Perspektiven“ bleiben dagegen blass: Die Demokratisierung der Bildung sei eine wesentliche Voraussetzung für den „Entwurf eines guten Lebens“, über das sich der ansonsten reichlich zitierte Karl Marx sicher ebenso lustig gemacht hätte wie über den „gerechten Lohn“. Politik bekenne sich zu einem „neuen“ Verständnis von Bildung, wobei Bildung die Begleitung des Menschen „auf dem Weg zu kritikfähigen, kreativen, widerständigen und fantasiefähigen Subjekten einer demokratischen Gesellschaft“ bedeute.
Was bringt den Umschwung zur Befreiung?
Typisch für das ganze Unternehmen ist der Workshop Nummer Eins: Die Bildungspolitik der Bundesrepublik stehe an einem Scheideweg: „Entweder sie geht den Weg in die neoliberale Bildungsexklusionsgesellschaft weiter oder sie trägt zur Gestaltung einer solidarischen Bildungsgesellschaft bei.“ Apokalypse oder Befreiung: Was aber soll den Umschwung bringen? Wahlen, der Zeitgeist, Demonstrationen? Man erfährt es nicht.
Dass es AutorInnen gibt, daran hat man sich gewöhnt, doch in dem besprochenen Buch wird grammatisches Kauderwelsch betrieben: „Wer in Hochschulen studiert und forschend lehrt, ist aktiver und mündige_r Produzent_in ihrer/seiner Fähigkeiten und Erkenntnisse.“ Das ist zum einen wenig leserfreundlich, zum andren ist das Prinzip nicht streng durchgezogen. So bleibt, wie im zitierten Beispiel, schon mal ein "aktiver" in der rein männlichen Form stehen. Der zitierte Passus steht in Prof. Dr. Wolfgang Nitschs zwanzigseitigem Exkurs „Erinnerung an Geschichte: Hochschule in der Demokratie 1961-67“, einem Rück- und Ausblick, der sehr lesenswert ist.
Johannes Angermüller/Sonja Buckel/Margit Rodrian-Pfennig: „Soldarische Bildung. Crossover: Experimente selbstorganisierter Wissensproduktion“, VSA, Hamburg 2012, 334 Seiten, 22,80 Euro, ISBN 978-3-89965-498-1
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.