Kultur

Wegsehen gilt nicht

von Birgit Güll · 26. April 2011
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Damit Du es Dir merkst: So einfach ist die Begründung, warum Strafe sein muss. Und wer etwas besonders Schlimmes gemacht hat, wird eingesperrt: Damit er es sich merkt. Warum jemand weggesperrt von der Gesellschaft das richtige Verhalten in dieser lernen sollte, wird kaum gefragt. Schon gar nicht, wenn mal wieder der Ruf nach härteren Strafen laut wird. Doch was merkt einer, der weggesperrt wird?

"Niemand interessiert sich für Dich. Du hast verkackt", sagt Marc. Er sitzt in einer Gefängniszelle. Gemeinsam mit drei anderen jugendlichen Häftlingen. Marc ist einer der Charaktere in Philip Kochs Film "Picco". Er ist nicht der auf die schiefe Bahn geratene Schlaukopf, der die Zeit im Knast dazu nutzt, sich in der Bibliothek ausgiebig zu bilden. Er ist auch nicht das Schlitzohr, das mit flotten Sprüchen den Gefängnisalltag managt und wegen guter Führung frühzeitig entlassen wird. Er ist noch nicht mal der schlaue Fuchs, dem die Flucht gelingt. Denn diese Charaktere gibt es nur in populären Spielfilmen.

Strenge Hackordnung

Philip Kochs Figur Marc, gespielt von Frederick Lau, ist ein Junge in einer Zelle dem klar ist, dass diese Gesellschaft ihm nichts zu bieten hat. Dass sie ihm auch nichts bieten will. Schließlich hat er verkackt. Marc sitzt in der Jugendvollzugsanstalt (JVA). Und das schon lange genug, um die strenge Hackordnung hinter den Gefängnismauern zu kennen.

Im Gegensatz zu Picco, der eigentlich Kevin (Constantin von Jascheroff) heißt und neu ist in der JVA. Im "Erziehungsvollzug", wie die Psychologin sagt, die Kevin Psychopharmaka verschreiben kann. Zur Not. Wenn er es nicht aushält, dass er hier auf engstem Raum mit drei anderen lebt. Dass er der Willkür seiner Mitgefangenen ebenso ausgesetzt ist, wie der Hilflosigkeit des Wachpersonals. Dass er sich einrichten soll in der kleinen Welt zwischen Vierer-Zelle, Gemeinschaftsdusche und Hof, in der er ständig unter Beobachtung steht.

Das Recht des Stärkeren

Philip Koch schafft eine beklemmende Atmosphäre: lange Gänge, enge Räume, blassgrüne Wände, die den ganzen Film in ein grünliches Licht tauchen. Die schwelende Aggressivität der Jugendlichen kann sich jederzeit entladen. Auf einen Schwächeren oder einen, der gerade am falschen Ort steht. Kevin ist der Neue in der Zelle von Marc, Andy (Martin Kiefer) und Tommy (Joel Basman) und damit automatisch ganz unten in der Hackordnung. Er wird bedroht, beschimpft und drangsaliert. Bis er begreift, dass im Knast das Recht des Stärkeren zählt.

"Jeder ist hier drin für sich selber verantwortlich", sagt Tommy zu Kevin. "Du teilst aus oder Du steckst ein." So einfach ist das. Der schmale Tommy, der ohne Psychopharmaka nur schwer schlafen kann, hat seinen Platz gefunden. Er dealt Drogen und sieht weg wenn es nötig ist, egal ob jemand verprügelt oder vergewaltigt wird. Schließlich ist er selbst nicht das Opfer, wenn es ein anderer ist. Kevin zum Beispiel.

Doch der hat irgendwann genug davon ganz unten zu sein. Also findet er einen Schwächeren, auf den er einhacken kann. Und damit beginnt Tommys Martyrium. Eines Nachts machen Kevin, Marc und Andy die Vierer-Zelle zu einer Folterkammer. Einfach so. Weil sie es können. Weil sie aggressiv und ohne Perspektive sind. Tommys Betteln und Flehen verschlimmert alles nur noch.

Aufregung und Abneigung

Das intensive Kammerspiel ist schwer zu ertragen. Doch Koch gelingt es damit, den Spieß umzudrehen. Die Gesellschaft will in dem Bewusstsein leben, dass Strafe wehtut. Wer eingesperrt ist, soll es schlecht haben. Sehen will sie das aber nicht. Doch Koch ist unerbittlich. Er hält uns den Spiegel vor und dieser Spiegel heißt Kevin.

Der Zuschauer setzt während der gut zwanzig Minuten andauernden Folter darauf, dass Kevin das grausame Spiel beendet. Doch Philip Koch will uns keinen Helden zeigen. Er will uns zeigen, was wir nicht sehen wollen: Hinter Gittern blättert der hauchdünne Anstrich, den wir Zivilisation nennen und auf den wir uns soviel einbilden, schnell ab. Auch bei Kevin, mit dem sich der Zuschauer identifiziert hat. Mit dem er gelitten hat, als er schikaniert wurde, als er nicht mitgemacht hat bei den plumpen Gesprächen über Sex, als er der Psychologin sagt, dass er das alles "einfach nur überstehen will". Wer den Film sieht, will, dass Kevin sich am Ende als Guter zeigt. Doch er wird enttäuscht.

"Picco" ist ein kraftvoller, beeindruckender Film. Man muss dazu noch nicht mal wissen, dass er auf wahren Begebenheiten basiert, ganz besonders auf dem Mord in der JVA Sieburg im Jahr 2006. Koch ist 28 Jahre alt, seinDebüt lief auf dem Filmfestival in Cannes in der Kategorie Director's Fortnight. Es ist inzwischen mehrfach preisgekrönt. Die lange Folterszene sorgte für Aufsehen und Abneigung.

Dabei ist der eigentliche Aufreger wohl, dass der Sympathieträger Kevin Tommy tötet und dabei etwas sagt, das für uns alle gilt: "Du hättest dasselbe gemacht".

"Picco", 2010, Buch und Regie Philip Koch Mit Constantin von Jascheroff, Frederick Lau, Joel Basman, Martin Kiefer, u.a. http://www.picco-derfilm.de http://www.philip-koch.eu

Autor*in
Birgit Güll

ist Redakteurin, die für den „vorwärts“ über Kultur berichtet.

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