Jean Ziegler ist ein Linker, ein Schweizer, war Mitglied im Nationalrat und viele Jahre Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Er schreibt an gegen den
Hunger, die Ausbeutung, die ungerechte Weltordnung. In seinem neuen Buch erklärt er, woher dieser Hass kommt, der nicht nur islamische Fundamentalisten erfasst hat, sondern breite Kreise der
Bevölkerung des Südens bis hinein in die gebildeten Schichten. Es ist ein kenntnisreiches Buch, in dem geschickt persönliche Erfahrungen des Vielgereisten mit historischen Ereignissen verknüpft
werden.
Warum gerade jetzt?
Auf traumatische Erlebnisse reagieren Menschen mit Schweigen. Ähnlich ergeht es, so Ziegler, Gesellschaften. Ausgehend von den Theorien des Maurice Halbwachs, der 1945 im Konzentrationslager
Buchenwald starb, postuliert er: "Je traumatischer ein Ereingis für eine Gesellschaft ist, desto tiefer vergräbt diese es in ihrem Gedächtnis. Dann muss das kollektive Bewusstsein den erlebten
Schrecken langsam zähmen. Erst nach einer langen Reifungszeit wird die Kommunikation möglich, verwandelt sich der erlebte Schrecken in einen Analysegegenstand." Sklavenhandel und koloniale
Eroberung sind die beiden Traumata des Südens. Sie sind die "heilige Wunde", die nun wieder aufbricht und auf die der Westen "blind, taub und stumm" reagiere.
Kaltblütige Lüge
Als ein Beispiel nennt Ziegler Papst Benedikt XVI: 2007 besucht er Brasilien, spricht über das Christentum und das indianische Erbe. Zitat: "Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines
Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbianischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur." Als gäbe es nicht die Morde der
Conquistadoren, die Sklaverei in den Silber- und Goldminen, die Millionen Indianer das Leben gekostet hat. Ziegler: "Selten ist eine historische Lüge mit so viel Kaltblütigkeit verkündet worden."
Die Aufstände der Indianer wurden blutig niedergeschlagen und sind bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses indigener Völker. So sind in den Hochebenen der Anden Millionen Menschen
davon überzeugt, dass Evo Morales Ayma nicht nur Präsident Boliviens ist sondern auch ein Nachkomme von Túpac Katari, ein Aymara, der 1781 mit einer Armee von 40 000 Bauern und Bergarbeitern aus
dem Hochland Boliviens die Stadt La Paz belagerte. Die Aufständischen wurden von den Spaniern besiegt, Túpac Katari hingerichtet. Seine letzten Worte aber hallen bis heute nach, so Ziegler: "Ich
werde wiederkommen, und meiner werden Millionen sein."
Eine Ohrfeige für Wole Soyinka
Der Westen hört nicht zu, kann oder will nicht wahrnehmen, was vor seinen Augen geschieht. "Als Angela Merkel Wole Soyinka ohrfeigte", so die Überschrift eines Kapitels, handelt vom
G-8-Treffen 2007 in Heiligendamm, zu dem Angela Merkel auch Nigerias Staatspräsident Umaru Yar'Adua eingeladen hatte. Der war kurz zuvor mit Gewalt und Betrug an die Macht gekommen. Ein Schlag
ins Gesicht für alle diejenigen, die sich in Nigeria - oft mit Gefahr für Leib und Leben - für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Wie der nigerianische Dichter und
Literatur-Nobelpreisträger Wole Soyinka.
Lässt sich der Hass brechen?
Wenn man dieses Buch gelesen hat, fällt es schwer, daran zu glauben. Die Ausbeutung geht weiter und nimmt neue Formen an. Statt Obst und Gemüse wird heute auf immer mehr landwirtschaftlichen
Flächen Mais, Soja und Ölpalmen für die Produktion von Bioethanol und Biodiesel angebaut, was zum Anstieg der Lebensmittelpreise führt. Außerdem lassen sich 500 Jahre Ausbeutung, Misshandlung und
Mord nicht mal eben auslöschen.
Doch vor der Veränderung kommt das Verstehen. Dazu leistet Jean Ziegler einen wertvollen Beitrag. Und er erklärt auch, wo seine Hoffnung liegt. Es sind Menschen wie Evo Morales, es sind
Nationen wie Bolivien, die fähig sind, mit dem Westen zu brechen und die Ausbeutung durch den Westen zu beenden, oder wie Evo Morales es 2007 formulierte: "Schluss mit der Plünderung Boliviens!
Schluss mit dem Kolonialstaat!"
Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. C. Bertelsmann Verlag, München 2009, 288 Seiten, 19,95 Euro, ISBN:
978-3-570-01132-4