Kultur

Warum braucht Deutschland eine Parlamentspoetin, Simone Buchholz?

Die Autor*innen Simone Buchholz, Mithu Sanyal und Dmitrij Kapitelman fordern eine „Parlamentspoetin“ für den Bundestag. Warum die wichtig für die Demokratie ist und wen sie sich für die Aufgabe wünscht, sagt Simone Buchholz im Interview.
von Kai Doering · 6. Januar 2022
Wenn es nach mir ginge, wäre der erste Amtsinhaber der Rapper „Haftbefehl“: Autorin Simone Buchholz wünscht sich eine*n Parlamentspoet*in für den Bundestag.
Wenn es nach mir ginge, wäre der erste Amtsinhaber der Rapper „Haftbefehl“: Autorin Simone Buchholz wünscht sich eine*n Parlamentspoet*in für den Bundestag.

Gemeinsam mit ihren Kolleg*innen Mithu Sanyal und Dmitrij Kapitelman haben Sie vorgeschlagen, der Bundestag solle eine*n Parlamentspoet*in ernennen. Was soll diese Person leisten?

Grundlage unserer Idee ist ein sehr altes Kulturverständnis. Zu Beginn der Menschheitsgeschichte gab es Leute, die konnten gut jagen. Andere konnten die gejagten Tiere gut zerlegen und zubereiten. Und wieder andere kamen auf die Idee, mit Tierprodukten zu handeln. Es gab aber auch ein paar Freaks, die gut darin waren, der Gruppe zu erzählen, was ihr gerade widerfährt. In dieser Tradition sehe ich den oder die Parlamentspoetin. Sie soll der Gesellschaft eine Selbstvergewisserung geben, wer wir als Menschen sind, was wir zu bewältigen haben und wie wir uns unsere gemeinsame Zukunft vorstellen. Gleichzeitig soll die Parlamentspoetin das, was sie im Parlament erlebt, verarbeiten und nach außen tragen. Sie könnte also eine Brücke zwischen Parlament und Gesellschaft bauen.

Warum ist so eine Stelle notwendig?

Als bei Bundestagswahl so viele neue Abgeordnete in den Bundestag gewählt worden sind, hat mir ein Journalist erzählt, dass ihm aufgefallen ist, wie sich die Sprache der Abgeordneten verändert. Am Anfang reden sie noch wie die meisten anderen Menschen auch. Nach ein paar Wochen hat sich ihre Sprache dann grundlegend verändert. Sie reden oft in technischen, störrischen Sätzen, die kaum noch etwas mit gelebter Sprache zu tun haben. Hier käme die Parlamentspoetin bzw. der Parlamentspoet ins Spiel. Als Person von außen, die aber einen exklusiven Zugang hat, könnte sie die Sprache und damit die Arbeit der Abgeordneten für die Menschen „draußen“ übersetzen. Im Idealfall werden so politische Debatten in gesellschaftliche Debatten übersetzt. Der oder die Parlamentspoetin wäre also kein Amt, das nur dazu da ist, bei offiziellen Anlässen Gedichte vorzutragen. Es geht darum, eine Sprache zu finden, die berührt.

Vorbild Ihrer Idee ist Kanada, wo zurzeit die Dichterin Louise Bernice Halfe das Amt der Parlamentspoetin bekleidet. Was kann sich Deutschland dort abschauen?

Ich habe Louise Bernice Halfe auf der Frankfurter Buchmesse kennengelernt, wo ich einen Tag mit der kanadischen Delegation verbracht habe. Kanada war ja im vergangenen Jahr das Gastland. Louise Bernice Halfe begreift sich als jemand, der politische und kulturelle Arbeit leistet. Sie hat im vergangenen Jahr ein Gedicht über die „First-Nation-Kinder“ geschrieben – indigene Kinder, die ihren Familien weggenommen und in Umerziehungsschulen gesteckt wurden. Das Gedicht hat eine breite gesellschaftliche Debatte in Kanada angestoßen und es wird nun auch Entschädigungen für die Betroffenen geben. Auch in der deutschen Gesellschaft gibt es Wunden, wenn auch aus anderen Gründen. Die könnte eine Parlamentspoetin oder ein Parlamentspoet mit den Mitteln der Sprache ebenfalls aufarbeiten.

Denken Sie auch an aktuelle Konflikte wie etwa die Debatte über die Impfpflicht?

Natürlich. Wenn man sich ansieht, unter welcher Spannung die Bundesrepublik steht, spricht eigentlich sehr viel für eine Person, die die Konflikte aufarbeitet. Ein Parlamentspoet wäre dabei nicht der Regierungstroubadour, sondern ein Anwalt des Volkes. Wenn man sich vorstellt, wir hätten in dem Amt eine junge türkischstämmige Autorin, würde das gleich in mehrfacher Hinsicht den Finger die Wunde legen und zeigen, dass sowohl Frauen als auch Migranten im Parlament noch immer unterrepräsentiert sind.

Wen würden Sie sich als Parlamentspoet*in wünschen?

Wenn es jetzt nur nach mir ginge, wäre der erste Amtsinhaber der Rapper „Haftbefehl“, so jemanden fände ich wahnsinnig interessant. Wichtig ist aber vor allem, dass sich die Person auf ganz andere Art mit Politik auseinandersetzt als wir es gewohnt sind. Natürlich müsste der Bundestag sich ein gutes Auswahlverfahren überlegen und das Amt ausschreiben.

Würde ein*e Parlamentspoet*in auch den Graben zwischen Politik und Kultur, der sich in der Corona-Pandemie gezeigt hat, wieder etwas schließen?

Dieser Bruch ist ja nicht erst in der Corona-Zeit entstanden. Es gab in den langen langen Jahren konservativer Regierungen bei Künstlern und Kulturschaffenden nicht das Gefühl, auf Augenhöhe gesehen zu werden. Kunst und Kultur wurden lange nicht als das gesehen, was sie sein könnten: Gesellschaftserklärer, Vermittler und ähnliches. Die Arbeit, die Künstlerinnen und Künstler für die Gesellschaft leisten, wird zwar häufig vorausgesetzt, aber nie eingefordert. Sie werden eher als Zierde wahrgenommen und nicht als elementarer Bestandteil einer offenen Gesellschaft und der Demokratie. Selbst im Ausland wird Deutschland heute zwar als starke Wirtschaftsmacht und stabiler Staat wahrgenommen, aber nicht mehr als denkende Nation. Eine Parlamentspoetin kann das nicht ändern, aber sie kann ein Baustein dafür sein, sich gegenseitig wieder mehr zuzuhören. Wenn die Person, die das Amt ausübt, jedes Jahr wechselt, gäbe es zwischen zwei Bundestagswahlen vier verschiedene Stimmen aus der Gesellschaft ins Parlament und umgekehrt. Das könnte schon einiges bewirken.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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