Kultur

Wahnsinn setzt sich durch

von ohne Autor · 16. Mai 2014

Menschen, die vor totaler Überwachung warnen, galten früher als Spinner. Niels Bolbrinkers Film „Die Wirklichkeit kommt“ zeigt, wie scheinbare Hirngespinste zur  Methode wurden – und was uns noch blühen könnte.

Die Szenerie in dem Dokumentarfilm erinnert an einigen Stellen an einen Endzeit-Blockbuster. Ein armer Irrer – zumindest wird er von allen dafür gehalten – spaziert mit einem Pappschild durch die Straßen und warnt vor einer Katastrophe. In diesem Fall sind es geheime Strahlen, die alles und jeden kontrollieren. Doch dieser Mensch, den Bolbrinker in Erinnerung ruft, ist keine Fiktion: In den 70er-Jahren lief der „Sendermann durch West-Berlin, um gegen groß angelegte Spitzeleien durch die USA zu protestieren. Mit den gigantischen Abhöranlagen auf dem Teufelsberg schien in der atmosphärisch aufgeheizten Frontstadt ein objektiver Nachweis dafür gegeben. Bis heute finden sich die Parolen des „Sendermannes“ auf Berliner Mauern.

Ebenso real ist das Gefühl, dass der Mann gar nicht so falsch lag. Dafür sorgen allein die Enthüllungen über die Schnüffeleien im Internet und in Mobiltelefonen durch die NSA. Ist das, was vor 40 Jahren als Irrsinn galt, nunmehr Realität? Und werden elektromagnetische Wellen gar im Verborgenen eingesetzt, um unliebsame Menschen zu quälen?

Was Geheimdienste wünschen

Wie scheinbarer Wahnsinn zur Methode geworden ist und in weitaus größerem Ausmaß werden könnte, beschreibt Bolbrinker in seinem Film. Er lässt Forscher im Bereich Sicherheitstechnik zu Wort kommen, die erklären, was bereits heute mit Drohnen und Spezialkameras möglich ist, um gegen Terroristen oder gewalttätige Demonstranten vorzugehen und welche Wünsche noch offen sind. 

Sogenannte Mind Control Victims – Menschen, die meinen, jemand versuche sie durch Wellen oder implantierte Chips zu manipulieren – berichten, warum und wie sie sich vor den Strahlungen schützen und wie sie unter dieser Bedrohung leiden. Zudem erklären Experten, welche Folgen die vor allem vom Whistleblower Edward Snowden offengelegte Unterwanderung der digitalen Welt durch britische und US-Geheimdienste für Folgen für eine offene Gesellschaft hat – und wie dieses Merkmal zur bloßen Chiffre zu verkommen droht.

Am deutlichsten bringt Constanze Kurz vom Chaos Computer Club die Folgen der Überwachung, die sie von einer quasireligiösen Paranoia getrieben sieht, auf den Punkt. „Das Wissen um unsere soziale Interaktion und Kommunikation ist eine Machtfrage“, sagt sie. Der Philosoph Thomas Metzinger fordert gar, dass die Menschheit einen neuen kulturellen Kontext für digitale Errungenschaften entwickelt, um das Bewusstsein für den Missbrauch der Technologie zu schärfen und diesem damit entgegenzuwirken.

Der Reiz dieser Dokumentation liegt darin, dass Bolbrinker weder eine überzogene Alarmstimmung erzeugt noch den erhobenen Zeigefinger durch den Cyperspace fahren lässt. Man hat eher das Gefühl, er habe sich der Materie wie ein staunendes Kind genähert, das Zug um Zug begreift, womit und mit wem es zu tun hat. Daher rührt auch der ruhige Erzählfluss,  in dem sich wahre Abgründe auftun.

Etwa, wenn ein Militärexperte aus Nordamerika erklärt, beim Anti-Terror-Kampf seien nicht die Menschen, sondern die Technik das Problem. Zwar könnten die Geheimdienste noch nicht durch Wände gucken, doch mit flinken kleinen Drohnen sei man kurz davor. Am Ende müsse es aber darum gehen, die Gedanken der als gefährlich eingestuften Zeitgenossen lesen zu können. Und ein deutscher Forscher vom Fraunhofer-Institut führt mit seelenruhigem Tüftlerstolz vor, welchen Stand die moderne Bildauswertung erreicht hat. „Leider können wir bedrohliche Einstellungen noch nicht an den Bewegungen der Menschen erkennen“, sagt er. Es bleibt kein Zweifel daran, dass er alles tun wird, um dieses Ziel zu erreichen. Wer ist hier eigentlich der Wahnsinnige?

Skurril geraten die Passagen über die vermeintlichen Strahlungsopfer. Einer der Männer hat sein Haus von innen mit Planen und Decken verrammelt, um die gefährlichen Wellen auszusperren. An diesen Stellen übermannt einen die unfreiwillige Komik. Doch das Lachen bleibt einem in Halse stecken. Wie sagt doch ein Psychologe in dem Film: Das, was Menschen mit einer gewissen Schizophrenie äußern, stellt sich später mitunter als Wahrheit heraus. Sind die Prophezeihungen des „Sendermannes“ im Nachhinein nicht weniger abstrus, als sie seinerzeit anmuteten?

Freilich stößt Bolbrinkers lakonische Erzählweise auch an ihre Grenzen. Anstatt zumindest am Ende klar Stellung zu beziehen, entlässt uns der 1951 geborene Regisseur mit einer flapsigen Pointe. Man mag darin einen stimmigen Schlusspunkt sehen. Doch gerade dort offenbart sich die Schwäche des Films, kaum auf Alternativen zu den reichlich ausgebreiteten Schattenseiten der vernetzten Welt und des technischen Fortschritts einzugehen. Das tut dem hohen Erkenntnis- und Unterhaltungswert allerdings keinen Abbruch.

Info: Die Wirklichkeit kommt (Deutschland 2013), ein Film von Niels Bobrinker, mit Harald Brems, Constanze Kurz, Thomas Metzinger, Maurus Tacke u.a., 82 Minuten.

Ab sofort im Kino.

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