Kultur

Vom Erwachsenwerden in einer immer noch geteilten Stadt

von Dagmar Günther · 5. Dezember 2007

Wie tief die Kluft zwischen Ost und West in einer Stadt sein kann, jedenfalls, wenn die eine Seite durch Berlin-Zehlendorf markiert wird und die andere Seite durch den S-Bahnbereich Schönhauser Allee - Friedrichshain - Treptow - Köpenick, das verdeutlicht Beate Dölling in ihrem neuen Buch. Arztsohn Johannes Richard Ephraim Springborn hat so ziemlich alle Vorurteile gegen Leute aus dem Osten verinnerlicht, die sein Vater, ein arrivierter Zehlendorfer Orthopäde, im Kopf hat. Diese Vorurteile prägen seine Sicht auf die Menschen, die ihm begegnen, als er eines Tages spärlich bekleidet durch den Berliner Osten zieht.

Rollenwechsel

Die Handlung setzt damit ein, dass der Held des Buches verschläft. Als er erwacht, ist seine Klasse bereits auf dem Bahnhof. Eine Klassenfahrt steht an. Vor dem Spiegel im Badezimmer fällt ihm auf, dass er neuerdings wie ein Mann aussieht, am Telefon wurde er schon häufig mit dem Vater verwechselt. Er beschließt, dies zu nutzen, spielt am Telefon gegenüber den Schulsekretärin die Rolle des Vaters, der seinen kranken Sohn entschuldigt.



Gefährliche Selbstüberhebung


Genau diese Selbstüberhebung wird ihm zum Verhängnis, denn als er sich immer noch in der Rolle des Vaters fühlend mit ob seiner neu gewonnenen Männlichkeit stolzgeschwellter Brust vor die Tür tritt und diese hinter sich zuzieht, wie es auch sein Vater täte, sperrt er sich selbst aus und niemand ist da, ihm zu helfen.



Noch scheint alles wie ein Spiel. Es ist Sommer. Ein See ist fußläufig erreichbar. In seinen grünen Shorts fällt er dort nicht auf. Er lernt sogar ein nettes Mädchen kennen. Es stellt sich ihm als einen Zehlendorfer Jungen betreuendes ukrainische Au-pair vorstellt. Der Impuls, sie um Hilfe zu bitten, kommt jedoch zu spät. Als er sie sucht, findet er sie nicht mehr. Von der Mutter eines kleinen Jungen wird er von der Haustür verscheucht. Hilfreiche Nachbarschaft ist nicht in Sicht. Er beschließt, zum Badeschiff nach Treptow zu fahren und dann weiterzusehen.

In der Folge bedrängen ihn existenzielle Fragen, die er vorher nie kennen gelernt hatte. Der Hunger setzt ihm zu. Das Barfußlaufen ist quälend. Und die seine Fahrt kurzfristig unterbrechenden, von ihm voller Verachtung beschriebenen S-Bahnkontrolleure jagen ihm einen solchen Schrecken ein, dass er sich - medial geprägt - gleich Guantanamo nahe sieht.



Begegnungen

Drei Sandras begegnen dem "Hänschen", das wie der Holden aus "The Catcher in the Rye" sein will und überhaupt mit literarischen Anspielungen nur so um sich wirft. Es ist ein Glück, dass ihm der Wunsch nach sexueller Annäherung über Schranken im Kopf hinweghilft. So hilft ihm dann die dritte Sandra nicht nur kurzfristig aus seiner Not, sondern lässt ihn Nöte und Angst vergessen, ein großes Gefühl erleben und zur eigenen Identität finden.

Die Geschichte ist flüssig erzählt. Gekonnt spielt die Autorin mit Vorurteilen und Klischees.

Dorle Gelbhaar



Beate Dölling "Alles bestens", Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz Basel Weinheim, 2007, 1731 Seiten, ISBN 978-3-407-80-995-7

Autor*in
Dagmar Günther

war bis Juni 2022 Chefin vom Dienst des vorwärts.

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