Erst in der Krise entdecken manche Menschen, worauf es ankommt. „Die feinen Unterschiede“ greift dieses uralte Thema auf und überrascht mit einem Duo, das im alltäglichen Leben wenig Berührungspunkte besitzt.
Wenn der Titel von Pierre Bourdieus Hauptwerk für den zeitgenössischen deutschen Film herhalten muss, scheint es auf der Hand zu liegen: Jetzt geht es an den Urgrund einer Gesellschaft, die von unsichtbaren Grenzen zwischen den Schichten durchzogen ist. Schließlich wird der französische Soziologe seit mehr als 30 Jahren kultisch dafür verehrt, nachgewiesen zu haben, dass der persönliche Geschmack eigentlich keiner sei, sondern ein Ergebnis der Sozialisation darstelle. Ästhetische Vorlieben sind demnach zugleich der Kitt zwischen einem Menschen und seinem Umfeld.
Man kann einiges an Sylvie Michels gleichnamigem Film kritisieren, eines jedoch nicht: Dass sie ihren 80-Minüter didaktisch überfrachten würde, um einen soziologischen Beweis zu führen. Zwar geht es um die Grundprägungen sozialer Milieus in einer deutschen Großstadt. Doch der Film lässt genügend Raum, um die Geschichte vor allem anhand der individuellen Befindlichkeiten der Hauptfiguren zu erzählen, selbst wenn diese eben auch eine Folge ihrer sozialen Stellung sind – ein analytischer Blick auf das Trennende und Verbindende also nicht von der Hand zu weisen ist.
Putzen mit Diplom
Gleichzeitig macht der Film deutlich, wie trügerisch soziale Schranken und damit auch die „feinen Unterschiede“ in einem Einwanderungsland sein können. Das gilt erst recht für Menschen wie Jana (Bettina Stucky). Die Bulgarin putzt nicht nur in einer vornehmen Berliner Fertilitätsklinik, sondern auch in dem Haus am See, wo der prominente Klinikarzt Sebastian (Wolfram Koch) logiert. Verbal bleibt alles weitgehend politisch korrekt, doch niemand scheut sich, Jana wie eine lästig Etwas zu betrachten oder herablassend durch die Gegend zu scheuchen. Wer ahnt schon, dass diese gleichsam selbstbewusste und duldsame Frau ein Lehrerdiplom in der Tasche hat und daheim in Sofia seinerzeit ebenfalls eine Raumpflegerin beschäftigte? Bis es für sie in dem Balkanland keine Zukunft mehr gab und sie in die Bundesrepublik ging: Zum Putzen. Wie so viele ihrer Generation.
Doch erst im Angesicht der Krise bricht der verletzte Stolz aus ihr heraus. Und das, obwohl der Anlass vergleichsweise harmlos anmutet: Ihre 20-jährige Tochter Vera ist zu Besuch gekommen und mit Sebastians halbwüchsigen Sohn Arthur ausgegangen. Am Morgen danach fehlt von beiden jede Spur. Die Putzfrau bringt den Arzt dazu, Hals über Kopf die Klinik zu verlassen und sich auf die Suche nach den verlorenen Kindern zu machen.
Am Ende stehen beide vor den Trümmern ihrer Erziehung: Sebastian, der ehedem so lockere bis gleichgültige Vater eines Scheidungskindes offenbart plötzlich herrische Seiten. Jana wiederum, die meinte, ihre Tochter kontrollieren zu können, begreift langsam, was sie sich vorgemacht hat. Beide flüchten sich in die Irrationalität. Und entdecken, dass sie trotz unterschiedlicher Lebensstandards gar nicht so unterschiedlich ticken.
Kontrollverlust immerdar
Am Ende, so will uns Regisseurin Sylvie Richter zeigen, ist es also das Elternsein und der Kampf mit den Widrigkeiten, die der Umgang mit Heranwachsenden in der Regel mit sich bringt, was die Menschen über soziale Grenzen hinweg miteinander verbindet: Was nicht zuletzt für die Herausforderung durch den Kontrollverlust gilt, der auch bei jeder noch so durchdachten Erziehungsweise ständig droht. Den Verlustängsten der Eltern stellt Richter die Ängste jener Menschen gegenüber, die Sebastian tagtäglich behandelt: Also das Gefühl, etwas womöglich niemals zu bekommen, was andere längst besitzen und oftmals damit wenig anzufangen wissen.
Gerade dieser Link überzeugt angesichts der hölzernen Umsetzung allerdings wenig. Am stärksten ist der Film ohnehin immer dann, wenn allein Sebastian und Jana die Szenerie bestimmen. Zwar krankt die Erzählweise daran, Sebastians Perspektive zu folgen. Der setzt sich beharrlich mit seiner Wird-schon-nichts-passiert-sein-Haltung durch, was jeglichen Spannungsaufbau abwürgt. Andererseits ist es Jana, die ihn dazu bringt, von seinem hohen Ross herunterzusteigen, und sich zu fragen, ob in seinem Leben wirklich alles so makellos läuft, wie er immer gedacht hat.
Es wäre zu wünschen, dieser Film würde all das weniger spröde und mit mehr Raffinesse ausbreiten. Stattdessen präsentiert er eine, wenn auch nicht gerade alltägliche, Personen-Konstellation in immergleichen, schlichtweg öden Innenaufnahmen steriler Townhouse-Idyllen und Klinikräumen. Ein an sich sympathischer Realismus, mag er auch einem geringen Budget geschuldet sein, ist aber keine Entschuldigung für ästhetische und erzählerische Monotonie.
Die feinen Unterschiede
Info: Die feinen Unterschiede (D 2012), Regie: Sylvie Michel, mit Wolfram Koch, Bettina Stucky, Leonhard Bruckmann, Silvia Petkova u.a., 80 Minuten.
Ab sofort im Kino