Eine literarische Entdeckung! Der Schweizer Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker Mario Gmür legt mit seiner Sammlung von sieben höchst unterschiedlichen Geschichten zwar nicht sein erstes Buch, wohl aber sein Debüt als Erzähler vor.
Gmür schreibt seine vergnüglichen Erzählungen durchgängig in der Ich-Form. Die Gedanken frei und so bekennt der Autor in der Story „Unbedeutende Begegnungen mit bedeutenden Leuten“, in der Elias Canetti, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Franz Hohler auftauchen, freimütig, er sei diesen Berühmtheiten „nicht einmal begegnet“, doch „umso mehr will ich von ihnen erzählen“.
Die Hosen von Elias Canetti
Sehr kurzweilig beschreibt Gmür die Versuche, in einer Reinigung die Hosen des Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti käuflich zu erwerben. Die Frau hinter dem Tresen traktiert ihn mit ihrer Lebensweisheit, nur Verstorbene wollten „meistens ihre Kleider nicht mehr“. Canetti habe sie indes nur vergessen abzuholen.
Sehr hübsch ist die Geschichte, in der der Erzähler auf dem Amazonas unterwegs ist. Das Boot, in dem er in einer Gruppe von Touristen sitzt, kentert plötzlich, er sich kann wie durch ein Wunder freischwimmen – immer in Gedanken an die gefräßigen Piranhas. Er räsoniert, bevor er das rettende Ufer erreicht, über seinen Nachruhm: „Und doch werde ich jetzt als Abenteurer in die Familiengeschichte eingehen. Da war doch einer, der ist im Amazonas verschwunden. Der ist jetzt noch im Amazonas.“
Die Mutter weint, als Stalin stirbt
In der titelgebenden Erzählung geht es um eine Mutter, eine Jüdin, die aus der UdSSR geflüchtet ist und – obwohl oder weil Kommunistin – die Sowjetmacht heiß und innig liebt und verteidigt, gleichwohl sie weiß, dass sie dort wegen des latenten Antisemitismus nur sehr unsicher leben würde – daher ja auch die Ausreise. Am Ende bleibt ihm, dessen Mutter in Tränen ausbrach, als Stalins Tod bekannt wurde, und dessen Vater für die Ostberliner „Weltbühne“ schrieb, nur die resignative Erkenntnis: „Übrigens, die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Die DDR auch nicht. Honecker ist im Gefängnis. Der ganze Ostblock ist jetzt kapitalistisch.“
Des Lesens wert ist auch der kürzeste Text, „Die Probevorlesung“, bei dem ein angehender Professor zum ersten Mal vor sein akademisches Publikum tritt, wobei ihm bewusst ist, „dass ich ohne weiteres das Telefonbuch oder den Koran vorlesen, meinen Vortrag in serbokroatischer oder koreanischer Sprache halten könnte, ohne dass auch nur einer der Herren das merken würde“. Er übt und übt und übt, denkt schließlich, er spräche vor einer Versammlung der Tiere im Zoologischen Garten und – Fauxpas ohnegleichen – spricht die Versammelten im Hörsaal tatsächlich als „Meine verehrten Damen und Herren Gorillas!“ an. Der Tumult ist unbeschreiblich, die Karriere, bevor sie begonnen, schon beendet und das Fiasko enorm ... wenn nicht, ja wenn nicht der Delinquent das Ganze nur geträumt hätte: „Ich schaue auf die Uhr, ich muss zur Arbeit, heute Nachmittag habe ich Probevorlesung“.
Zwischen Traum und Wirklichkeit, Lachen und Weinen, bitteren Erkenntnissen und heiteren Begegnungen oszillieren Gmürs Geschichten, die man sich, hier leistet der Verlag Pionierarbeit, als Käufer des Buchs kostenlos für den E-Reader herunterladen kann. Gratulation!
Mario Gmür: „Meine Mutter weinte, als Stalin starb“ Erzählungen, Salis Zürich 2013, 221 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-905801-80-4
Matthias Dohmen hat Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie studiert, arbeitet als freier Journalist und ist 2015 mit einer Arbeit über die Rolle der Historiker West und Ost im "deutschen Geschichtskrieg" promoviert worden.