Kultur

„Unser Fluss, unser Himmel“: Wie Menschen im Irak dem Terror trotzen

Gemeinsam lachen, leiden und träumen sie: Das Kinodrama „Unser Fluss, unser Himmel“ erzählt vom brutalen Chaos im Irak während der blutigen Jahre 2006/2007 aus der Perspektive einer Nachbarschaft in Bagdad.
von ohne Autor · 7. Juli 2023
Bagdad verlassen oder bleiben? Sara (Darina Al Joundi) und ihre Tochter Reema (Zainab Joda) genießen eine Fahrt auf ihrem Fluss, dem Tigris.
Bagdad verlassen oder bleiben? Sara (Darina Al Joundi) und ihre Tochter Reema (Zainab Joda) genießen eine Fahrt auf ihrem Fluss, dem Tigris.

Ein ganz normaler Morgen in Bagdad. Sara hilft ihrer Tochter Reema dabei, sich für die Schule anzuziehen. „Ich habe nichts mehr zu erzählen“, sagt Sara, als sie von Reema gefragt wird, warum sie ihr am Tag davor keine Geschichte erzählt hat. „Aber ich dachte, das ist dein Beruf“, antwortet die Tochter.

Ein Leben als permanente Grenzerfahrung

Ein ganz normaler Morgen? Wohl eher ein Versuch von Normalität in Zeiten, wo nichts mehr normal ist. Das Jahr 2006 gilt als das blutigste im Irak seit dem illegalen Angriffskrieg der USA und dem Sturz von Diktator Saddam Hussein. Bombenanschläge, Morde und Entführungen halten die Hauptstadt Bagdad und weite Teile des restlichen Landes in Atem. Das Ausmaß der politisch und religiös oder auch rein kriminell motivierten Gewalt kennt keine Grenzen. Und doch versuchen Millionen von Menschen, irgendwie zu leben und zu überleben. Leben als permanente Grenzerfahrung.

In jenem Jahr setzt die Handlung von „Unser Fluss, unser Himmel“ ein. Viele fragen sich bis heute, wie das Alltagsleben der Menschen aussah, als der Terror im Zweistromland eskalierte. In den Medien war seinerzeit nur wenig darüber zu erfahren. 20 Jahre nach der US-Invasion bietet der Film von Maysoon Pachachi erschütternde Einblicke. Aus ungewohnter Perspektive ermöglicht er die Annäherung an eine Zeit, deren Folgen der Irak längst nicht bewältigt hat. Was natürlich auch für die jahrzehntelange Gewaltherrschaft gilt.

Wie überleben?

Wie halten Menschen ihr Leben zusammen, wenn die innere und äußere Welt zerfällt? Wie können wir psychisch und emotional überleben? Woher nehmen wir den Willen und den Mut, dem Schaden zu widerstehen und die Hoffnung nicht zu verlieren? Wie lässt sich ein Gefühl der Gemeinschaft bewahren? Es sind grundlegende Fragen, mit denen uns die in Großbritannien beheimate Filmemacherin mit irakischen Wurzeln konfrontiert, und zwar aus verschiedenen Perspektiven.

Den Rahmen des Ganzen bildet die Nachbarschaft in einem unscheinbaren Wohnviertel in Bagdad. Seit jeher leben dort Menschen unterschiedlicher Religion, Konfession und Herkunft miteinander und nebeneinander. Nun kann es zur Frage von Leben und Tod werden, ob jemand Sunnit*in oder Schiit*in ist. Und doch funktioniert das Gemeinwesen nach innen wie gehabt. Man hilft einander und tauscht sich aus – mal lachend, mal weinend.

Eine dieser Nachbar*innen ist Sara: jene Autorin, der angesichts des täglichen Horrors die Worte fehlen. Wie so viele andere denkt sie daran, ins Ausland zu gehen. Wie so viele andere fragt sie sich, was für eine Zukunft ihr Kind im Irak erwartet. Reema hat hingegen ganz andere Vorstellungen. Bleiben oder gehen: Diese Auseinandersetzung zieht sich durch viele Familien. Reemas alleinerziehende Mutter ist der Mittelpunkt der Gemeinschaft im Quartier, viele Fäden laufen bei ihr zusammen. Mit Humor und Empathie hält sie das Netzwerk aufrecht.

Gesellschaft am Abgrund

Eine Woche lang verfolgt der Film eine Reihe dieser Begegnungen. Diese machen deutlich, wie sehr das Chaos im Irak an die Substanz der Gesellschaft geht. Einige Dialoge beruhen auf Gesprächen, die die beiden Autorinnen in den Jahren 2006 und 2007 im Irak geführt haben. Daraus entstanden fiktionalisierte Erzählungen. Gedreht wurde in Bagdad und in der Autonomen Region Kurdistan.

Wiederholt werden Quartiersbewohner*innen auf ihren Wegen durch die Stadt begleitet. Eine ältere Frau eilt aufs Amt, um sich nach ihrem verschwundenen Sohn zu erkundigen. Saras Mutter wird auf der Fahrt zu einer Beerdigung gestoppt, weil sie der „falschen“ Konfession angehört. Ihr Bruder, der bei der Baubehörde arbeitet, muss sich mit unbekannten Leichen herumschlagen. In diesen Szenen wird das Drama eines ganzen Landes. Bei all dem Schrecken sind sie mitunter nicht frei von Absurdität.

Mit großem Einfühlungsvermögen haben Maysoon Pachachi und die irakische Co-Drehbuchautorin Irada Al-Jubori ein Panorama von Iraks Gesellschaft gezeichnet. Die Blickwinkel sind – auch bezogen auf die sozialen Milieus – vielseitig. Gemein ist ihnen der ständige Ausnahmezustand, dem auf vielerlei Weise begegnet wird. Die Menschen und nicht das brutale Drumherum stehen im Vordergrund, wenngleich die Gewalt ständig präsent ist – krachende Maschinengewehre und Explosionen bilden ein Grundrauschen.

Packende Geschichten

Manche Szenen in Saras Nachbarschaft sind etwas betulich geraten. Die hölzerne deutsche Synchronisation verstärkt diese Wirkung. Offenbar bestand das Ziel darin, dieses Leben in relativer Geborgenheit gegenüber einer häufig unmenschlichen Außenwelt abzugrenzen und der Erzählung einen ruhigen Fluss zu geben. Dennoch hätten Drehbuch und Regie mitunter mutiger sein können.

Nichtsdestotrotz konfrontiert „Unser Fluss, unser Himmel“ die Zuschauenden mit packenden Geschichten, die schon viel früher hätten erzählt werden sollen. Und die sich – über den Irak hinaus – beängstigend aktuell anfühlen.

Info: „Unser Fluss, unser Himmel“ (UK, F, D, KW 2021), Regie: Maysoon Pachachi, Drehbuch: Irada Al-Jubori und Maysoon Pachachi, mit Darina Al Joundi, Zainab Joda, Basim Hajar u.a., 117 Minuten, ab 12 Jahre.

Im Kino 

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