Kultur

Ungebetener Gast 
im Leben der anderen

Die Welt rückt zusammen, doch auf der Straße bleibt jeder für sich: Die Perfomance-Dokumentation „The Visitor“ erzählt davon, wie Barrieren zwischen Menschen dank kindlicher Naivität fallen.
von ohne Autor · 6. Februar 2015
Filmtipp: The Visitor
Filmtipp: The Visitor

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren unbekümmert durch die Stadt. Plötzlich drängt sich jemand an Ihre Seite. Ohne einen Ton zu sagen, aber dabei Ihre Bewegungen imitierend. Für viele dürfte das, freundlich gesagt, gewöhnungsbedürftig sein.

Das hätte wohl auch die Regisseurin und Schauspielerin Katarina Schröter einst so unterschrieben. Doch in ihrem ersten Langfilm tut sie eben genau das. Irgendwann begann sie sich für die Bezugslosigkeit zwischen Menschen im öffentlichen Raum zu interessieren. Also für das Phänomen, mit unerschöpflichen Scharen gemeinsam U-Bahn zu fahren, im Flugzeug zu sitzen oder sich sonst wie in der Masse zu bewegen, ohne mit den anderen in Kontakt zu treten, geschweige denn, Einblicke in ihr Leben zu bekommen. Was macht dieses kontaktarme Leben mit unserer Identität, mit dem Bild von uns selbst?

„Ich lebe in einer globalen Realität von der ich nicht nur weiß, dass sie konstruiert ist, sondern die ich auch noch nicht mal zu fassen bekomme“, sagt Schröter. Um das zu ändern, begab sie sich auf den Weg durch verschiedene Metropolen, um mit einer kindlich anmutenden Naivität die Bezugslosigkeit zu hinterfragen und, zumindest in einigen wenigen Fällen, zu überwinden. Und zwar, indem sie sich zufällig ausgewählten Menschen an die Seite wirft und in ihrer Sprachlosigkeit und Nachahmungsfreude zugleich Regeln des Miteinanders bricht.

Doch erst der Regelbruch schafft neue Verbindungen: In Mumbai hängt sich die 38-Jährige an einen Obdachlosen beim Tauben füttern, der sie eher stoisch erträgt. Andere Bewohner, nicht nur in dieser Stadt, fühlen sich im wahrsten Sinne des Wortes peinlich berührt – von jener Frau, die, stets im schwarzen Kleid, in kerzengerader, also etwas gekünstelter Theaterbühnen-Haltung wie ein Golem ihres Weges zieht und anfangs mitunter auch genau so wahrgenommen wird. In Moskau wurde das kleine Team sogar festgenommen.

Körperliches Unbehagen

Man hat fast Mitleid, wenn Schröter wie verloren durch indische Gassen geistert. In anderen Momenten ist ein schier körperliches Unbehagen zu spüren, wenn sich die ungebetene Besucherin durch ihre  Annäherungsversuche bloßstellt.

Die Kamera ist Schröter und ihren Versuchspersonen stets dicht auf den Fersen, manchmal beobachtet sie sie aus wachsender Ferne. In Sao Paulo quartiert sich die Filmemacherin bei einem Taxifahrer ein, dem sein Auto vor Jahren auch zur Wohnung wurde. Schweigsam verharrt sie an seiner Seite, während Cigano fahrenderweise aus seinem Leben erzählt. Bis in der nächtlichen Dunkelheit die Liegesitze heruntergeklappt werden.

Nicht minder eng auf Tuchfühlung geht Schröter mit ganz unterschiedlichen Menschen in Shanghai. Zunächst zieht sie einige Male mit dem Wanderarbeiter Xilong durch die Stadt, bis sie irgendwann doch mit in dessen düstere Sammelunterkunft darf – es sind ungewohnte Einblicke in eine abgeschottete Welt. Wie überhaupt die unaufdringliche Kamera vieles zeigt, vielleicht sogar erst sichtbar macht, was nicht zu erwarten gewesen wäre. Dafür gab es im vergangenen Jahr einen Preis beim new berlin film award.

Vertauschte Rollen

Der intensivste und wohl auch ergiebigste Erzählstrang nimmt, ebenfalls in der chinesischen Metropole, seinen Lauf, als es zur Begegnung mit der jungen Marketingassistentin Christina kommt. Anfangs sehen wir ihr zu, wie sie vor Schröter geradezu davonläuft. Doch daraus entsteht tatsächlich eine Beziehung.

Es beginnt eine Entwicklung, auf die dieses filmische Experiment, das mehr von einer Perfomance hat, abzielt: zu beobachten, wie der Austausch mit dem anderen die Grenzen zwischen Individuuen zerfließen lassen – und sei es nur bei gemeinsamen Fernsehabenden. Beide Frauen durchleben eine Grenzerfahrung. Am Ende schlüpfen sie vorübergehend in ungewohnte Rollen. Im Off-Kommentar sind Auszüge aus Christinas Tagebuch über diese merkwürdige Begegnung zu hören. Als einzige Zufallskandidatin scheint sie den Sinn des Experiments verstanden zu haben.

Doch welchen Ertrag zieht der Zuschauer aus dieser Performance-Doku? Er erlebt, wie unterschiedlich und doch wieder ähnlich Menschen aus verschiedenen Kulturen mit dem unvermittelten Wunsch nach Nähe und Interaktion umgehen. Doch bis auf Christina bleiben Schröters „Opfer“ als Persönlichkeiten eher blass. Wie sollte es auch sonst sein, wenn die Regisseurin die verbale Kommunkation mit ihnen verweigert?

Mitunter stößt es bitter auf, Menschen vor der Kamera dazu zu bewegen, etwas von sich preiszugeben, ohne, bis auf die Erfahrung des Verschmelzens, selbst zu liefern, die Menschen also als Versuchspersonen zu inszenieren. Andererseits ist diese Doku-Perfomance in ihrer schlichten Konsequenz brillant, mag das Ganze mitunter auch etwas konstruiert wirken. Aber auch das ist Teil des Experiments.

Info: The Visitor (Deutschland 2014), ein Film von Katarina Schröter, Kamera: Paola Calvo, 80 Minuten

Ab sofort im Kino

 

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