Kultur

Überraschung in Stockholm

von Bernhard Spring · 9. Oktober 2009
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1984 erschien ein schmaler Erzählband in der Bundesrepublik. "Niederungen" hieß er, war zwei Jahre zuvor sehr zensiert in Rumänien veröffentlicht worden und beschreibt die Lebensumstände der deutschsprachigen Minderheit im Banat und in Siebenbürgen unter der kommunistischen Ceauşescu-Diktatur.

Die Autorin selbst, Herta Müller, wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im Kreis Temeschwar geboren. Ihre Familiengeschichte ist stark von den sozialistischen Umbrüchen der Nachkriegszeit und der Unterdrückung ethnischer Minderheiten in Südosteuropa geprägt. So wurde ihr Großvater enteignet, ihre Mutter in die Sowjetunion deportiert und Müller selbst, da sie sich weigerte, für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu arbeiten, 1979 aus ihrer Anstellung als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik entlassen. Fortan schlug sich die studierte Germanistin als Lehrerin durch, gab in Kindergärten und privat Deutschunterricht.

Nach dem Erscheinen ihres ersten Erzählbandes 1982 wurde sie mehrfach von der Securitate verhört und ihre Wohnung durchsucht. Mit ihrem damaligen Mann, dem Schriftsteller und Journalisten Richard Wagner, über den gar ein Schreibverbot verhängt worden war, gelang ihr 1987 die Ausreise in die Bundesrepublik. In West-Berlin veröffentlichte Herta Müller in den folgenden Jahren Bücher wie "Reisende auf einem Bein" oder "Der Fuchs war damals schon der Jäger", in denen sie zum einen den Terror ihrer Heimat schilderte und zum anderen das Fremdsein in ihrem neuen Umfeld in Deutschland aufgriff.

Zu Beginn der neunziger Jahre wurde sie über die Grenzen der deutschsprachigen Literatur durch mehrere Erzählbände bekannt, die in schneller Folge erschienen und aufgrund des Zusammenbruchs der sozialistisch geprägten Staaten Osteuropas auf großes Interesse stießen. Lehraufträge an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland - zuletzt an der Humboldt-Universität in Berlin - sowie Literaturpreise wie der Kleist-Preis 1994 und die Carl-Zuckmayer-Medaille 2002 folgten der großen Anerkennung ihres Werkes, das teilweise in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurde.

Erst im Vorjahr erregte Herta Müller zuletzt öffentliches Aufsehen, als sie sich in die Debatte um die politische Vergangenheit einiger rumänischer Intellektueller einschaltete und von dem ebenfalls rumänien-deutschen Schriftsteller Carl Gibson beschuldigt wurde, für den rumänischen Geheimdienst tätig gewesen zu sein. Müller setzte sich gegen diesen Vorwurf zur Wehr, indem sie in einem Beitrag für die Wochenzeitung "Zeit" die Repressalien schilderte, denen sie während ihrer Kindheit und Jugend in Rumänien ausgesetzt gewesen war.

In diesem Jahr erschien der Roman "Atemschaukel", der das Schicksal eines Deutschen beschreibt, der in die Sowjetunion verschleppt wird. Die dem Roman zugrunde liegende Lebensgeschichte des rumänischen Dichters Oskar Pastoir bearbeitete Müller zu einem allgemeinen Beispiel für die Unterdrückung der deutschen Minderheit in ihrer Heimat. "Atemschaukel" gilt als Favorit für den Deutschen Buchpreis, der in der nächsten Woche während der Frankfurter Buchmesse verliehen werden wird.


Die Vergabe des Nobelpreises für Literatur an Herta Müller sorgte für internationales Furore innerhalb der Literaturwelt, denn immerhin waren neben der beispielsweise in Amerika nahezu Unbekannten renommierte Autoren wie Philip Roth oder Amos Oz für den Preis nominiert. Manche setzten sogar auf den Singer-Songwriter Bob Dylan, der für seine griffigen Balladen ausgezeichnet werden sollte.

Doch nun ist es Herta Müller, deren Werk im Dezember mit der Vergabe des Preises geehrt werden wird. Nach zehn Jahren geht der Nobelpreis wieder einmal nach Deutschland.

Lesen Sie hier die Rezension zu Herta Müller: Atemschaukel

Autor*in
Bernhard Spring

erhielt 2008 den Literaturpreis des Landes Sachsen-Anhalt, 2011 erschien sein erster Roman, „Folgen einer Landpartie“.

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