Ausgehend von der Frage, was Jugendliche zu solch hemmungslosen Quälereien und Morden treibt, begibt sich Andres Veiel auf eine Reise durch die Hintergründe der Tat. Diese führt ihn nicht nur
zu den Tätern, sondern auch zu deren Eltern und Freunden. Aus diesen sehr tiefgehenden Gesprächen zeichnet Veiel ein Bild, das die Lebensumstände der Täter aufzeigt. Veiel gibt ihnen dadurch eine
Biographie, welche der einfachen Abstempelung als Bestien entgegenwirkt.
In weiteren Gesprächen mit Dorfbewohnern, Bürgermeister, Pfarrer und Erziehern wird tief in die Geschichte Potzlows eingetaucht. Auch Angehörige und Freunde des Opfers kommen zu Wort. Der Weg
führt über historische Traumata, Ängste vor und nach der Wiedervereinigung, Gewalt, Ausgrenzungen und tiefer individueller Verbitterung in eine Gesellschaft, in der das Gefühl der
Perspektivlosigkeit allgegenwärtig erscheint.
Erzählungen im O-Ton
Im ersten Teil des Buches stellt Andres Veiel Ausschnitte aus seinen Gesprächen im Original-Wortlaut zusammen. Die teilweise umgangssprachlichen und mit Dialekt versehenen Ausführungen lassen
die Wortmeldungen der befragten Personen überaus authentisch erscheinen.
Auch wenn die Aufzeichnungen manchmal abrupt enden um zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt zu werden, kann sich der Leser zunehmend in die Gefühlswelt der unterschiedlichen Menschen
hineindenken. Dabei wird teilweise bereits über die Tat gesprochen. Doch auch Erinnerungen und Beschreibungen des jeweils eigenen Lebens werden angerissen.
Von der Kindheit bis zum Mord
Der zweite Teil beginnt mit den Biographien der Täter und des Opfers. Veiel hat hier sehr detailgetreu die Lebensgeschichten der Beteiligten aufgezeigt, von der Kindheit bis heute. Die hier
aufgezeigten Lebensumstände, Kindheitserlebnisse und zwischenmenschlichen Beziehungen zeichnen die menschliche Entwicklung aller Beteiligten nach. Immer mehr lässt sich nachvollziehen, wie sie zu
dem geworden sind, was sie zum Zeitpunkt der Tat waren.
Anschließend wird die Tat ziemlich präzise beschrieben. Die Umschreibung beginnt zehn Tage vor der Tat. Die jeweiligen Tagesabläufe aller Beteiligten werden aufgezeigt und münden schließlich
in dem fast zufälligen Aufeinandertreffen von Opfer und Tätern. Es folgt eine Wiedergabe des Abends. Nach anfänglichem friedlichem Beisammensein beginnen die Quälereien, die schließlich weit
entfernt vom Ort der Begegnung im "Bordsteinkick" enden.
"Jetzt konnte man die Schuppen wieder offen stehen lassen"
Im weiteren Verlauf des Buches geht es schließlich um die Zeit nach dem Mord. Veiel zeigt auf, dass die Tat durch das Schweigen der Zeugen und Mitwisser monatelang unentdeckt blieb. Weiter
wird verdeutlich, wie Dorfbewohner, Freunde und Angehörige auf ihre Weise mit den Ereignissen umgehen.
Bei manchen stellt sich nach dem Verschwinden von Marinus Erleichterung ein. Andere versuchen, ihren Schmerz zu verarbeiten. Insgesamt scheint das Dorf sich hauptsächlich Sorgen um ein
potentiell negatives Image zu machen, was in zahlreichen Ausführungen deutlich wird. Für die Hintergründe des Mordes interessiert sich so gut wie niemand.
Zu guter Letzt tauchen im Kapitel "Zusammenhänge" noch einmal diverse Geschehnisse und Personen in der Dorf-Historie auf. Ein skrupelloser Geschäftsmann, Sehnsüchte nach DDR-Zeiten und
verloren gegangenes Vertrauen in Polizei und Justiz lassen Rückschlüsse auf den Potzlower Nährboden für Rechtsextremismus zu. Zum Abschluss sucht Andres Veiel das Leben der Täter nach ihrer
Verurteilung auf. Es wird deutlich, wie sie sich mehr und mehr von ihrer rechtsextremen Gesinnung distanzieren.
Ein "Lehrstück"
Insgesamt stellt "Der Kick" eine überaus gelungene Aufarbeitung einer grausamen Tat dar. Anders als einst die meisten Medien, hat Andres Veiel von Beginn an auf eine Stigmatisierungen des
Dorfes verzichtet und es geschafft, Hintergründe und Umstände zu beleuchten. Bei der Lektüre des Buches entstehen weder Verständnis noch Mitgefühl für die Täter, jedoch bleibt ein komplexes, aber
nachvollziehbares Gesamtbild der Tat hängen.
Nicht ganz nachvollziehbar erscheint hingegen zunächst der Untertitel des Buches: "Ein Lehrstück über Gewalt." Es geht in diesem Buch um eine ganz spezielle Gewalttat und nicht umsonst hat
der Autor viel Wert auf die Individualität der einzelnen Menschen gelegt, die schließlich zu dem Mord geführt haben.
Die Vorgehensweise und die vielschichtige Analyse durch den Autor stellen in der Tat ein Instrument zur Untersuchung ähnlicher Fälle dar. Aber welche generellen Lehren über Gewalt kann man
aus dieser Aufarbeitung ziehen? Die Antwort gibt Veiel selbst: "Die genaue Diagnose ist die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie. Ob man diesen Satz auf die Veränderung gesellschaftlicher
Zustände übertragen kann, muss sich erst noch zeigen."
Felix Eisele
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