Ob Um-die-Welt-Jetter-Workaholic oder Imbisswirt: Jeder Mensch erschafft sich seine eigene Heimat – mag diese auch nur eine gefühlte sein. Welche absurden Verwicklungen möglich sind, wenn sie einem genommen wird, beschreibt die Tragikomödie „Willkommen bei Habib“.
Was kann den gewöhnlichen, also peniblen Schwaben mehr erschüttern als eine streikende Müllabfuhr? Keine Frage: Regisseur und Co-Drehbuchautor Michael Baumann gestaltet den Moment, als das Leben der Hauptfiguren in seinem neuen Film außer Kontrolle gerät, bewusst klischeehaft. Gleichzeitig ruft er mit seiner Collage aus Lebensläufen, die in einem Imbiss tief im Stuttgarter Südwesten zusammenlaufen, in Erinnerung, dass in keiner deutschen Großstadt mehr Migranten leben als in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. Dort liegt der Anteil an Menschen mit Wurzeln im Ausland bei 40 Prozent. So verdichten sich auf engstem Raum nicht nur ethnische Kontexte, sondern auch individuelle Lebensentwürfe. Doch was sind diese Lebensentwürfe wert, wenn sich plötzlich herausstellt, dass die größtenteils Fassade sind oder auf Selbsttäuschung beruhen? Kann die Sehnsucht nach einem neuen Dasein gar zum Motor jeglichen Denkens, Fühlens und Handelns werden? Ist es manchmal gar ein Glück, zu verlieren, wie der Untertitel verheißt?
Fluchtpunkt Verkehrsinsel
All das führt uns Baumann anhand von vier Männern vor, die gegensätzlicher kaum sein könnten und innerhalb weniger Tage etwas verlieren,was ihnen Halt und Identität – um nicht zu sagen: Heimat – gegeben hat. An dem Tag, als die ersten liegen gebliebenen Abfallsäcke das Stadtbild verschandeln, steht auch Brunos Dasein und Selbstverständnis zur Entsorgung bereit. Weil er sich eine krumme Tour geleistet haben soll, landet der hyperaktive Manager, der sich hintergangen fühlt, Knall auf Fall auf der Straße – wo der Endvierziger auch bleibt. Auf einer Verkehrsinsel gegenüber dem vertrauten Büroturm geht er in Dauersitzstreik, um wieder in Ehren aufgenommen zu werden.
Wenige Meter entfernt hat Habib,vor Jahren aus der Türkei zugewandert, seinen auf treudeutsch getrimmten Imbiss mit Döner und Fleischküchle.
Auch Habib hatte sich eingerichtet. Doch sein Sohn Neco konfrontiert ihn immer wieder mit den türkischen Wurzeln der Familie. Als Habib eines Tages seine Jugendliebe trifft, ist das bisherige Leben mit seiner auf Ignoranz fußenden Sicherheit endgültig dahin. Auch Neco, dem ohnehin jede Richtung fehlt,muss sich neu sortieren, als ihm Frau, Geliebte und Auto abhanden kommen. Ingos Selbstbetrug ist hingegen schon vor geraumer Zeit geplatzt. Um kurz vor dem Ende seiner Tage endlich seine Tochter zu finden, die er einst allein zurückließ, flieht er aus dem Krankenhaus und hängt sich im Telecafé von Habibs Frau tagelang an die Strippe.
Habibs Imbiss wird zum Schauplatz von heftigen Auseinandersetzungen, großer Sehnsucht und unendlichem Schmerz: Menschen wachsen über sich hinaus, wähnen sich am Ziel oder sehen ihr Leben in Trümmern. Hoffnung und Scheitern liegen dicht beieinander. Und am Ende kommt die Müllabfuhr.
Ekstatischer Optimismus
Am eindrucksvollsten sind die Passagen mit Bruno und Habib. Wir erleben einen aggressiven Machertypen, der tief fällt. Am Dönerspieß erhält Bruno eine Chance und rappelt sich wieder auf. Auch wenn ihm dabei gewohnte Antriebe zugute kommen, ist er hinterher doch ein anderer. Bruno und Habib reiben sich aneinander und beide profitieren davon. Diese intensive Erzählung lebt vor allem vom hervorragenden Zusammenspiel der beiden Hauptdarsteller. Thorsten Merten, spätestens seit Andreas Dresens „Halbe Treppe“ als einer der charismatischsten Typen der Kategorie „muffeliger Zauderer“ eine Institution, ist als testosteronsattes und dauerbrabbelndes Energiebündel Bruno kaum wiederzuerkennen. Je stärker sich die Krise verfestigt, desto deutlicher wird diese Figur gebrochen, bis hin zum ekstatischen Optimismus, als sich eine Wendung abzeichnet: eine packende Meisterleistung dieses Schauspielers, den man gerne häufiger, nicht nur in derlei gratwandlerischen, Hauprollen sehen würde.
Zumal sich in diesem Protagonisten, wie auch bei Habib, das tragikomische Grundwesen des Films noch am deutlichsten widerspiegelt: Auch Vedat Erincin („Almanya“) hält seine Figur in konstanter Schwebe. Gerade Brunos und Habibs rätselhafter Weg zu sich selbst hält den Zuschauer während der knapp zwei Stunden bei der Stange. Necos (Burak Yigit) und Ingos (Klaus Manchen) Geschichten kommen hingegen vergleichsweise vordergründig, bisweilen gar klischeehaft daher. Überhaupt fragt man sich, warum Baumann und seine Co-Autorin Sabine Westermaier ausschließlich Männer in den Fokus rückten, selbst wenn es den Frauen überlassen bleibt, die eine oder andere dramatische Wende einzuleiten. Weil Männer die Krise brauchen, um sich sich selbst zu erkennen? Das wäre freilich eine reichlich verstiegene Sichtweise. So hinterlässt dieser, auch dank der Handkamera, über weite Strecken atmosphärisch dichte und bis in die Nebenrollen hervorragend besetzte Film einen faden Beigeschmack.
Info: Willkommen bei Habib (Deutschland 2014), ein Film von Michael Baumann, mit Vedat Erincin, Thorsten Merten, Burak Yigit, Klaus Manchen, Luise Heyer u.a., 115 Minuten.
Ab sofort im Kino