Was wollte er nicht so genau wissen?" Moderatorin Miriam Meckel nimmt Peer Steinbrücks ersten Satz als Einstieg in das Gespräch und bekommt keine Antwort. Der Ex-Finanzminister hatte die Erkenntnis eher für andere gedacht: Menschen, die sich in falschen Gewissheiten wiegen. Unser Wohlstandsniveau, unser Konsum, Deutschlands wirtschaftliche Stärke in Europa und der Welt und den Fortbestand unseres Sozialstaats sieht Steinbrück in Gefahr. Es könnte sein, dass "Europa an die Peripherie gerät", fürchtet er.
"Es ist keineswegs ausgemacht, dass wir unsere Position behaupten können, geschweige denn weiterhin zu den Gewinnern gehören", schreibt er in seinem Buch. Es gebe Mitbewerber, Länder in Asien und Lateinamerika, die schnell gelernt haben. "Sie sind jung, ehrgeizig und belastbar - ein Pulk von Läufern, die schnell näher kommen und uns zu überholen suchen." Auch unser Sozialstaat komme in den Schraubstock. Denn wer garantiert uns, dass er seine Leistungen weiterhin zahlen kann, wenn es den "Alleskleber Wachstum" nicht mehr gebe?
Kanzlerkandidat der SPD?
Bücher sind auch immer Bewerbungsschreiben, konstatiert Moderatorin Meckel. Sie kennt Steinbrück, seit er Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen war und sie Staatssekretärin in seinem Umfeld. Wofür bewirbt sich Steinbrück mit diesem Buch will sie wissen: Als moralische Instanz? Als Weltökonom in der Nachfolge von Helmut Schmidt? Als Kanzlerkandidat der SPD? Schöne Fragen, böse Fragen. Sie ehrlich zu beantworten ist nicht ratsam. Wer sie hingegen richtig beantwortet, hat die Lacher auf seiner Seite. Gerhard Schröder kann das, Steinbrück auch.
Seine 600 Zuhörer bezieht er gleich mit ein: Die eine Hälfte würde ihn für ganz schön eingebildet halten, verstünde er sich als moralische Instanz. Die andere Hälfte würde sagen: Ein bisschen groß für ihn, wenn sich als Weltökonom aufspiele. Beim Thema Kanzlerschaft allerdings wird er ernst: "Wenn ich dazu was sage, bringt mich das um". Das sagt einer, der durch und durch "political animal" ist und vom Suchtcharakter der Politik weiß. Derzeit allerdings schätze er "Widergewinn der Zeitsouveränität", teilt er in Hamburg mit.
Fast ein bisschen Selbstkritik
Zwei wichtige Anliegen hat dieses Buch: Finanzkrise und Sozialstaat. Es gibt einen detaillierten Einblick in die Hintergründe der Krise, ihre Ursachen und Folgen. Steinbrück spart nicht mit Kritik. Sein Brass auf die Bankmanager und deren "Ahnungslosigkeit, Risikoignoranz und Desinformation" ist nicht verklungen. Auch die Politik bekommt ihr Fett weg. Sie habe sich "sich in Deutschland zu lange der angloamerikanischen Deutungshoheit entfesselter Finanzmärkte ergeben".
Übt da etwa einer Selbstkritik? So richtig dann doch nicht. Denjenigen, die es schon immer besser gewusst haben wollen, hält Steinbrück in seinem Buch entgegen: Er könne sich "nicht erinnern, dass nennenswerte Stimmen oder Gruppen des Bankensektors selbst, der Wirtschaftswissenschaften oder der politischen Konkurrenzfirmen ... vor Ausbruch der Krise im Sommer 2007 die Bundesregierung oder generell die Politik aufgefordert hätten, sich national wie international für eine rigidere Regulierung und Aufsicht starkzumachen." Womit er nicht ganz Unrecht hat.
Sorge um den Sozialstaat
Die Krise hat dem Staat Milliarden Schulden hinterlassen und einen Legitimationsverlust. "Die Menschen zweifeln an der Fairness bei der Verteilung der Lasten der Krise." Steinbrück, Sozialdemokrat seit mehr als 40 Jahren, sorgt sich um den Fortbestand des Sozialstaats, sieht die Zentrifugalkräfte, die in auseinanderreißen könnten. Es gebe Parallelgesellschaften nicht nur bei Migranten, sondern auch in der Bel Etage in der Gesellschaft", so Steinbrück in Hamburg. Dort habe man den Sinn für Maß und Mitte verloren.
Natürlich wird Steinbrück auch auf die anderen Parallelgesellschaften angesprochen, auf die der Migranten und auf das Buch von Thilo Sarrazin. Dessen "merkwürdigen Darwinismus" lehnt er ab, gesteht ihm aber zu, dass auch wegen seines Buches die Integrationsdebatte jetzt auf der Tagesordnung stehe. Recht so, findet Steinbrück. Die Politik könne dem Thema nicht weiterhin ausweichen. Er will dasProblem aber anders als Sarrazin, nicht am Thema Migranten festmachen und hält ein flammendes Plädoyer für ein besseres Bildugssystem:
- Keine Herdprämie für Frauen, denn die hat zur Folge, dass Kinder, die es nötig haben, nicht in den Kindergarten gehen.
- Keine weitere Erhöhung des Kindergeldes. Damit war als Finanzminister gescheitert, auch in der eigenen Partei
- Mehr Geld für Bildung, Sprachkurse, Lernmittelfreiheit, mehr Mittel für Schulen in sozialen Brennpunkten, Sozialarbeiter und Psychologen an die Schulen.
- Keine weiteren Steuersenkungen.
Plädoyer für Freiheit
Für Steinbrück lautet die Gleichung "Mehr Bildung = mehr Freiheit = mehr Solidarität = mehr Gerechtigkeit." Für die SPD enthalte diese Gleichung keine einzige Unbekannte, auch wenn er sich erlaubt habe, die Reihenfolge zu ändern. Steinbrück: "Gerechtigkeit ist nach meinem Verständnis auch eine Folge solidarischen Verhaltens. Freiheit und Demokratie mahnen uns: Wenn du dich nicht um uns kümmerst, dann verlassen wir dich."
Ein spannendes, ein lesenswertes Buch. Als Steinbrück im Januar 2010 das erste Kapitel geschrieben hatte stürzte sein Computer ab. Die Hälfte ließ sich retten. Steinbrück war verzweifelt. Der Rat, den er bekam, war hart aber herzlich: Sei froh, dass es am Anfang passiert ist. Die Leser freut's auch, denn sonst gäbe es das Buch jetzt vermutlich nicht.
Peer Steinbrück, Unterm Strich, Verlag Hoffmann und Campe Hamburg, 2010, 480 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-455-50166-7
Lesenswert dazu: